Anders als Carola Bauckholt nähert sich der russische Komponist Sergej Newski in seiner szenisch-konzertanten Arbeit Pazifik Exil der Stimme über eine konkrete literarische Vorlage, den 2007 entstandenen gleichnamigen Roman von Michael Lentz. In einem modernen Melodram, das mit elektronischen Klängen als einzige instrumentale Quelle auskommt, entwickeln sechs Sing- und Sprechstimmen sechs Monologe und Dialoge. Es sind die Stimmen der Protagonisten des Romans – Bertolt Brecht, Arnold Schönberg, Franz Werfel, Alma Mahler, Heinrich Mann und Thomas Mann –, die hier zusammentreffen. Sie alle begegneten sich auf der Flucht vor den Nazis im amerikanischen Exil, in Lion Feuchtwangers Villa Aurora. Sechs Individualisten, die Seelenzustände zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Ohnmacht und Allmachtsfantasien erfahren haben, sind hier in einem imaginären Gedankenaustausch abgebildet.
Sergej Newski hat diese eigenwilligen Psychogramme in eine Musik übersetzt, die zwischen Gesang, Rezitation und nonverbaler, scheinbar rein emotional motivierter Lautäußerung changiert. Solistische Passagen wechseln sich ab mit polyphonen Stimmengeflechten oder choralartigen Klanggebilden. Die Sing- und Sprechstimme fungiert hier sowohl als Erzählinstrument wie auch als Mediator von Stimmungen und Atmosphären. Tippgeräusche einer Schreibmaschine und sparsam eingesetzte elektronische Klänge ergänzen die über weite Strecken transparente Textur stellenweise um eine rhythmische Komponente. Außerdem gliedern zusätzliche, rein elektronische Intermezzi die Komposition hörbar in einzelne Szenen.
Der Komponist, Elektroniker und Techno-Musiker Paul Frick generiert seine Klänge in Echtzeit aus den akustischen Relikten des Live-Gesangs, verfremdet diese nach und nach, und entwickelt einzelne Fragmente weiter zu einer artifiziell anmutenden Klang- und Geräuschkulisse. Auf diese Weise wird der Unmittelbarkeit, der Nahbarkeit, letztlich der Menschlichkeit der Stimmen ein kontrastierendes, möglicherweise neutralisierendes Moment gegenübergestellt.
Leonie Reineke
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