Die Stimme ist nicht nur Trägermasse zur Vermittlung von Textbotschaften. Sie ist das primäre Lautäußerungsorgan des Menschen und damit das vielleicht unmittelbarste, differenzierteste und ausdrucksstärkste Musikinstrument überhaupt. Wer singt, vermittelt eine Spur des Körpers, eine organische Konstitution, vielleicht sogar eine biografische Signatur. Lautüberschüsse wie Atem, Heiserkeit, Rauheit, Brüchigkeit, Timbre oder extreme Artikulation sind mit keinem anderen Instrument so nuanciert realisierbar wie mit der Stimme. Und so trainiert ein Sänger auch ist, der ›Rest der Stimme‹ – alle hörbaren Ebenen jenseits von Ausdruck und Gestaltung – schwingt immer unwillkürlich mit.
Carola Bauckholt: Stroh
Dieser Gedanke bewegte die Komponistin Carola Bauckholt 2012 zu ihrem Stück Stroh, in dem sie die gesungenen Worte aus Artikulationen ableitet anstatt einen Text zu vertonen. Nicht der makellose Schönklang einer Singstimme, sondern all jene Elemente, die ihr ihren einzigartigen Charakter verleihen, faszinierten die Komponistin: »Mich zieht die individuelle Stimmfarbe an«, so Bauckholt, »deshalb reduzierte ich die Besetzung in meiner Komposition auf vier Stimmen – ein transparentes Quartett. Mich interessiert die Unterseite des Gesangs; das vocal fry, der Strohbass, Multiphonics, resonierende Taschenfalten, Luftklänge, gehauchte Akkorde, Klänge mit starker Textur. Stimmen sind archaisch und haben einen unmittelbaren Kontakt zum Unterbewusstsein. Das möchte ich jenseits von Klischees berühren.« Die gesungenen Vokale und Konsonanten in ihrer A-cappella-Komposition generierte Bauckholt also nicht aus einer abstrakten wort- oder inhaltsbezogenen Materie, sondern aus einer direkten Klangvorstellung.
Sergej Newski: Pazifik Exil
Anders als Carola Bauckholt nähert sich der russische Komponist Sergej Newski in seiner szenisch-konzertanten Arbeit Pazifik Exil der Stimme über eine konkrete literarische Vorlage, den 2007 entstandenen gleichnamigen Roman von Michael Lentz. In einem modernen Melodram, das mit elektronischen Klängen als einzige instrumentale Quelle auskommt, entwickeln sechs Sing- und Sprechstimmen sechs Monologe und Dialoge. Es sind die Stimmen der Protagonisten des Romans – Bertolt Brecht, Arnold Schönberg, Franz Werfel, Alma Mahler, Heinrich Mann und Thomas Mann –, die hier zusammentreffen. Sie alle begegneten sich auf der Flucht vor den Nazis im amerikanischen Exil, in Lion Feuchtwangers Villa Aurora. Sechs Individualisten, die Seelenzustände zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Ohnmacht und Allmachtsfantasien erfahren haben, sind hier in einem imaginären Gedankenaustausch abgebildet.
Sergej Newski hat diese eigenwilligen Psychogramme in eine Musik übersetzt, die zwischen Gesang, Rezitation und nonverbaler, scheinbar rein emotional motivierter Lautäußerung changiert. Solistische Passagen wechseln sich ab mit polyphonen Stimmengeflechten oder choralartigen Klanggebilden. Die Sing- und Sprechstimme fungiert hier sowohl als Erzählinstrument wie auch als Mediator von Stimmungen und Atmosphären. Tippgeräusche einer Schreibmaschine und sparsam eingesetzte elektronische Klänge ergänzen die über weite Strecken transparente Textur stellenweise um eine rhythmische Komponente. Außerdem gliedern zusätzliche, rein elektronische Intermezzi die Komposition hörbar in einzelne Szenen.
Der Komponist, Elektroniker und Techno-Musiker Paul Frick generiert seine Klänge in Echtzeit aus den akustischen Relikten des Live-Gesangs, verfremdet diese nach und nach, und entwickelt einzelne Fragmente weiter zu einer artifiziell anmutenden Klang- und Geräuschkulisse. Auf diese Weise wird der Unmittelbarkeit, der Nahbarkeit, letztlich der Menschlichkeit der Stimmen ein kontrastierendes, möglicherweise neutralisierendes Moment gegenübergestellt.
Georg Friedrich Haas: Drei Liebesgedichte
Eine weitere Dimension des Gespanns von Stimme, Text und Bedeutungsinhalt offenbart sich in Georg Friedrich Haas’ Drei Liebesgedichten von 2005. In dieser Vertonung der Gedichte Blüte, Heimlichkeit und Spiel von August Stramm, bei denen der Dichter weitgehend auf jede Syntax verzichtet, entsteht ein musikalisches Konzentrat von Bildern und Sinneseindrücken.
»August Stramm«, so Georg Friedrich Haas, »reiht in seinen Gedichten Wort an Wort zu einer vorwiegend klanglich und rhythmisch bedingten, expressiven Abfolge von Substantiven, Adjektiven und Pronomen, wobei es auch zu sprachlichen Neubildungen kommen kann. Wo er grammatikalisch vollständige Sätze bildet, vermitteln diese keine konkreten Inhalte, sondern formulieren frei assoziativ miteinander verbundene Metaphern und Bilder.« Gerade die extremen sprachlichen Verkürzungen und die radikale Reduktion auf ausdrucks- und bildstarke Begriffe verleiht der im Text manifestierten Zärtlichkeit und Leidenschaft eine emphatische Ausdruckskraft. Diese Verdichtung spiegelt sich auch im klanglichen Resultat wider, das von chorischen Clustern ebenso lebt ist wie von virtuosen Flüster- und Stotterkanons. Dem musikalischen Geschehen scheint eine sich unaufhörlich im Fluss befindliche, stellenweise dramatisch kulminierende Energie innezuwohnen.
»Stramms Arbeiten«, so Haas, »sind vergleichbar mit den etwa zur selben Zeit entstandenen frühen atonalen Kompositionen Anton Weberns, in denen musikalische Inhalte in ähnlicher Weise komprimiert sind. Wie in Weberns Musik finden sich in Stramms Gedichten Elemente einer quasi zeitlosen, auch heute noch – um die 100 Jahre nach ihrer Entstehung – andauernden Modernität.«
Benjamin Sabey: Voyage
Liebeslyrik steht auch im Mittelpunkt des neuen Werks Voyage, das der US-amerikanische Komponist Benjamin Sabey für die Neuen Vocalsolisten geschrieben hat. In seinem ›Madrigal für sechs Stimmen‹ vertont er ein Gedicht des amerikanischen Lyrikers Hart Crane aus den 1920er-Jahren. Viele der Arbeiten Cranes thematisieren seine Erfahrungen als Homosexueller in einer feindlichen Umgebung; so handelt auch das zweite Gedicht seines sechsteiligen Zyklus Voyages von seiner Liebe zu einem dänischen Seefahrer. »Ich habe dieses Gedicht ausgewählt«, so Benjamin Sabey, »weil es viel mit Naturmetaphern, insbesondere Beschreibungen des Meeres arbeitet. Und da meine Kompositionen häufig von der Natur inspiriert sind, haben mich Cranes Worte sofort angesprochen. Dazu kommt, dass ich schon immer in der Nähe des Meeres gelebt habe. Man könnte sagen, ich habe eine enge und intensive Beziehung zur See.«
Musikalisch verarbeitet hat Sabey das Gedicht in einer A-cappella-Komposition, die von glissandierenden Gesangslinien durchwirkt ist, aber auch Flüster- und Atemgeräusche enthält. Einige Entwicklungen münden dabei in beinahe diatonisch lesbare Akkorde. Zu Beginn und am Ende des Stückes arbeitet Sabey mit einer ›Shepard-Skala‹, der akustischen Illusion einer unendlich aufsteigenden oder abfallenden Tonleiter. Dieses Phänomen wird normalerweise mit übereinander geschichteten Sinustönen, also mit rein synthetischen Mitteln erzeugt. Sabey übertrug die Idee in Form von chorischen Glissandi auf die Singstimmen. »Der Shepard-Skala«, so der Komponist, »wohnt gewissermaßen der Gedanke der Unendlichkeit inne. Und da am Anfang des Gedichts von ›Ewigkeit‹ und am Ende vom ›Paradies‹ die Rede ist, schien mir hier eine wunderbare musikalische Analogie zum Text zu liegen.«
Generell versteht Benjamin Sabey sein Stück weniger als ein musikalisches Werk, dem ein Text beigefügt ist, vielmehr stellt er die Musik ganz in den Dienst der Worte. Den fünf Strophen des Gedichts entsprechend, unterteilt er Voyage in fünf Sätze: »Ich wollte die Bedeutung des Textes so gut wie möglich in der Musik porträtieren. Denn allein wenn ich das Gedicht nur lese, höre ich sofort Musik. Und genau jene Klänge wollte ich niederschreiben.«
Leonie Reineke