Die chamäleonartige Erscheinung des Ensemblekollektivs hat der Komponist Marc Sabat in seinem neuen Stück produktiv genutzt: Mit Asking ocean hat er sich der Herausforderung einer Nachkolorierung der eigenen Musik angenommen, indem er sein Streichquartett Euler Lattice Spirals Scenery, das 2011 durch das Sonar Quartett uraufgeführt wurde, zu einem Konzert für Streichquartett und Ensemble umgearbeitet hat. Sabat widmet sich hier der Erkundung von Obertonfrequenzen und mikrotonalen Verästelungen auf der Basis eines erweiterten Stimmungs- und Notationssystems, das er selbst mitentwickelt hat. Dieses System beruht auf einer natürlichen, reinen Stimmung der Instrumente. Die minimalen Unterschiede zum gängigen gleichschwebend temperierten System scheinen marginal und kaum hörbar, jedoch haben sie erhebliche Auswirkungen auf die Obertonstrukturen.
Asking ocean beginnt mit dem Stimm-Kammerton ›a‹. Im ersten Satz Prelude (intonation) verflechten sich die Töne gestrichener Leersaiten mit den Klängen umgestimmter Streichinstrumente. Als neuer Farbton tritt eine Naturtrompete hinzu, der die reine Stimmung gewissermaßen eigen ist. Der unmittelbar anschließende Satz nimmt mit seinem Titel Pythagoras Drawing 1 Bezug auf den Urvater aller Stimmungs-Debatten. Dementsprechend tasten sich die einsetzenden Holzbläser schrittweise in Richtung der pythagoreischen, einer quintreinen Stimmung. Zu einem späteren Zeitpunkt in der Komposition finden Viola da Gamba, Harfe und Cembalo zusammen, die eine Art mikrotonales Generalbassensemble bilden, das sich mit weiteren instrumentalen Farben mischt. Derweil fokussiert sich das Streichquartett auf Zusammenklänge, die auf das im 18. Jahrhundert entwickelte Eulersche Tonnetz – ein Gittermodell aus Dur- und Molldreiklängen, die jeweils durch gemeinsame Töne verbunden sind – zurückgehen. Je nachdem, mit welchen Stimmungssystemen und Klangfarben das Quartett kombiniert wird, nimmt es also verschiedene Rollen ein. Über eine Dauer von 45 Minuten entfaltet sich ein dichtes Gewebe von wechselnden Obertonverhältnissen und Timbres, das am Ende zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt – dem Kammerton ›a‹.
Leonie Reineke
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