Tonung ist die Technik des nachträglichen Einfärbens von schwarz-weiß-Fotografien oder Filmmaterial. Ob natürliche Farbtöne, die zunächst nur als Graustufen sichtbar waren, einem Bild zurückgegeben werden, oder ob eine Aufnahme mit eindeutig als künstlich zu identifizierenden Farben nachkoloriert wird: Das Spektrum der visuellen Reize wird reichhaltiger, vielgestaltiger, intensiver. Das Anreichern durch zusätzliche Farbwerte oder das Herausarbeiten verborgener Farbpotenziale ist ein Thema, das auch in der Musik seit Jahrhunderten eine Rolle spielt. Immer wieder schöpfen Komponisten Inspiration daraus, ihre eigenen Werke oder die ihrer Kollegen nachzubearbeiten und mit zusätzlichen oder gänzlich alternativen Klangfarben zu versehen. Das Transformieren von Klaviermusik in Ensemble- oder Orchesterstücke dürfte dabei nach wie vor das populärste Modell sein.
Etwas bereits vorhandenes noch einmal zu überarbeiten oder zu erweitern geht meist über ein bloßes Re-Arrangement hinaus. Vielmehr fungiert diese Arbeit als spezielle Form der Reflexion, der Analyse des Ursprungswerks. Als musikalischen Kommentar auf das Selbstgeschaffene lassen sich auch die neuen Werke des Kanadiers Marc Sabat und des Türken Turgut Erçetin lesen. Beide Komponisten nehmen auf eigene, nur wenige Jahre zuvor entstandene Stücke Rekurs. Sowohl Sabats Asking Ocean für solistisches Streichquartett und 18 Instrumente als auch Erçetins Panopticon Specularities für Ensemble sind außergewöhnlich umfangreiche Werke, die aus deutlich kleiner besetzten Ausgangsstücken hervorgegangen sind. Durch diese neue, möglicherweise vieldeutige instrumentale Ummantelung der Originale kann eine einzelne Klangfarbe plötzlich andere, kräftigere Konturen bekommen oder Schatten in verschiedene Richtungen werfen. Farbabstufungen werden differenzierter, Beleuchtungsverhältnisse ausgeklügelter.
Ein Klangkörper, der sich Arbeiten dieser Art verschrieben hat und für den Sabat und Erçetin ihre Stücke komponiert haben, ist das Ensemblekollektiv Berlin. 2013 wurde es als Gemeinschaftsprojekt von vier Ensembles gegründet, die allesamt wichtige Eckpfeiler der freien Szene für zeitgenössische Musik in Berlin bilden: dem Ensemble Adapter, dem Ensemble Apparat, dem ensemble mosaik und dem Sonar Quartett. Hinter dem Zusammenschluss steht nicht nur der Wunsch nach kulturpolitischen Synergieeffekten, sondern auch ein künstlerisches Anliegen bzw. Experiment: die Eigenart jedes einzelnen Ensembles zu bewahren und doch zu einem großen Klangkörper für Neue Musik zu verschmelzen. Aus gleichsam vier Farbtönen setzt sich das Kollektiv zusammen: zwei Grundfarben mit einem reinen Streicher- und einem reinen Blechbläserensemble, sowie zwei Mischfarben mit heterogen besetzten Ensembles. Die Möglichkeiten, vielfarbige Klangbilder zu schaffen und zugleich mit starken Kontrasten oder der Fokussierung auf einen einzelnen Farbton zu arbeiten, sind hier nahezu grenzenlos.
Marc Sabat: Asking ocean
Die chamäleonartige Erscheinung des Ensemblekollektivs hat der Komponist Marc Sabat in seinem neuen Stück produktiv genutzt: Mit Asking ocean hat er sich der Herausforderung einer Nachkolorierung der eigenen Musik angenommen, indem er sein Streichquartett Euler Lattice Spirals Scenery, das 2011 durch das Sonar Quartett uraufgeführt wurde, zu einem Konzert für Streichquartett und Ensemble umgearbeitet hat. Sabat widmet sich hier der Erkundung von Obertonfrequenzen und mikrotonalen Verästelungen auf der Basis eines erweiterten Stimmungs- und Notationssystems, das er selbst mitentwickelt hat. Dieses System beruht auf einer natürlichen, reinen Stimmung der Instrumente. Die minimalen Unterschiede zum gängigen gleichschwebend temperierten System scheinen marginal und kaum hörbar, jedoch haben sie erhebliche Auswirkungen auf die Obertonstrukturen.
Asking ocean beginnt mit dem Stimm-Kammerton ›a‹. Im ersten Satz Prelude (intonation) verflechten sich die Töne gestrichener Leersaiten mit den Klängen umgestimmter Streichinstrumente. Als neuer Farbton tritt eine Naturtrompete hinzu, der die reine Stimmung gewissermaßen eigen ist. Der unmittelbar anschließende Satz nimmt mit seinem Titel Pythagoras Drawing 1 Bezug auf den Urvater aller Stimmungs-Debatten. Dementsprechend tasten sich die einsetzenden Holzbläser schrittweise in Richtung der pythagoreischen, einer quintreinen Stimmung. Zu einem späteren Zeitpunkt in der Komposition finden Viola da Gamba, Harfe und Cembalo zusammen, die eine Art mikrotonales Generalbassensemble bilden, das sich mit weiteren instrumentalen Farben mischt. Derweil fokussiert sich das Streichquartett auf Zusammenklänge, die auf das im 18. Jahrhundert entwickelte Eulersche Tonnetz – ein Gittermodell aus Dur- und Molldreiklängen, die jeweils durch gemeinsame Töne verbunden sind – zurückgehen. Je nachdem, mit welchen Stimmungssystemen und Klangfarben das Quartett kombiniert wird, nimmt es also verschiedene Rollen ein. Über eine Dauer von 45 Minuten entfaltet sich ein dichtes Gewebe von wechselnden Obertonverhältnissen und Timbres, das am Ende zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt – dem Kammerton ›a‹.
Turgut Erçetin: Panopticon Specularities
(Die Uraufführung dieses neuen Werks muss leider verschoben werden. Stattdessen sind zwei Werke zu hören, die Turgut Erçetin für das Ensemble Adapter bzw. das ensemble mosaik geschrieben hat. )
Einen anderen Weg der nachträglichen Erweiterung eines älteren Stückes wählte Turgut Erçetin, dessen kompositorische Arbeiten oft in engen Zusammenhängen mit Raum- und Psychoakustik sowie mit computergestützten Techniken stehen. Aufgewachsen in Istanbul, prägte ihn die spezifische Klanglandschaft seiner Heimatstadt schon als Jugendlicher. Sich künstlerisch mit Klang zu beschäftigen bedeutet für Erçetin keineswegs, nur über Tonhöhen und Rhythmik nachzudenken, sondern auch über reale wie künstliche Raum- und Zeitstrukturen.
Seine Komposition Deng, die 2012 durch das Ensemble Adapter uraufgeführt wurde, hat er zu einem dreiteiligen Zyklus erweitert, worin das Ursprungsstück unverändert als zweiter Satz enthalten ist. Den ersten Satz der neu entstandenen Komposition Panopticon Specularities bildet ebenfalls ein bereits existentes Werk, das Erçetin für das ensemble mosaik und Harfe arrangiert hat. Der letzte Satz hingegen ist vollständig neu, geschrieben für großes Simultanensemble und mehrere Sub-Ensembles mit ineinandergreifenden Tempi und Formschemata. Der Komponist bezeichnet diese Teilung als ein Zusammenwirken vier verschiedener ›Kerne‹, die zwar ein gemeinsames musikalisches Netz spinnen, aber durch eine räumliche Distanz zueinander ihre Unabhängigkeit wahren können. Zusammen bilden sie einen vielschichtigen Organismus.
»Mein Ziel ist es«, so Erçetin, »durch die räumliche Aufteilung der Ensembles für den Hörer die Möglichkeit zu schaffen, die komplexen akustischen Informationen ›hochaufgelöst‹ wahrnehmen zu können, um die Polyphonie des Werks greifen und verfolgen zu können.« Zudem arbeitet Erçetin gezielt mit variierenden Distanzen und Höhenpositionen der Instrumentalisten. So gelingt es ihm, den Einfluss natürlicher Richt- und Ausbreitungsfaktoren jeder einzelnen Schallquelle mit in den Raum ›hineinzukomponieren‹. Dass das Kollektiv in seiner Gesamtbesetzung erst im letzten Drittel von Panoptican Specularities zum Einsatz kommt, stellt eine äußerst wirkungsvolle Auffächerung des Klangspektrums dar. Plötzlich kann der Hörer das Geschehen aus multiplen Blickwinkeln – wie durch ein Kaleidoskop – betrachten, wobei Farbtöne und Mischverhältnisse immer wieder variieren.
Leonie Reineke