Liebeslyrik steht auch im Mittelpunkt des neuen Werks Voyage, das der US-amerikanische Komponist Benjamin Sabey für die Neuen Vocalsolisten geschrieben hat. In seinem ›Madrigal für sechs Stimmen‹ vertont er ein Gedicht des amerikanischen Lyrikers Hart Crane aus den 1920er-Jahren. Viele der Arbeiten Cranes thematisieren seine Erfahrungen als Homosexueller in einer feindlichen Umgebung; so handelt auch das zweite Gedicht seines sechsteiligen Zyklus Voyages von seiner Liebe zu einem dänischen Seefahrer. »Ich habe dieses Gedicht ausgewählt«, so Benjamin Sabey, »weil es viel mit Naturmetaphern, insbesondere Beschreibungen des Meeres arbeitet. Und da meine Kompositionen häufig von der Natur inspiriert sind, haben mich Cranes Worte sofort angesprochen. Dazu kommt, dass ich schon immer in der Nähe des Meeres gelebt habe. Man könnte sagen, ich habe eine enge und intensive Beziehung zur See.«
Musikalisch verarbeitet hat Sabey das Gedicht in einer A-cappella-Komposition, die von glissandierenden Gesangslinien durchwirkt ist, aber auch Flüster- und Atemgeräusche enthält. Einige Entwicklungen münden dabei in beinahe diatonisch lesbare Akkorde. Zu Beginn und am Ende des Stückes arbeitet Sabey mit einer ›Shepard-Skala‹, der akustischen Illusion einer unendlich aufsteigenden oder abfallenden Tonleiter. Dieses Phänomen wird normalerweise mit übereinander geschichteten Sinustönen, also mit rein synthetischen Mitteln erzeugt. Sabey übertrug die Idee in Form von chorischen Glissandi auf die Singstimmen. »Der Shepard-Skala«, so der Komponist, »wohnt gewissermaßen der Gedanke der Unendlichkeit inne. Und da am Anfang des Gedichts von ›Ewigkeit‹ und am Ende vom ›Paradies‹ die Rede ist, schien mir hier eine wunderbare musikalische Analogie zum Text zu liegen.«
Generell versteht Benjamin Sabey sein Stück weniger als ein musikalisches Werk, dem ein Text beigefügt ist, vielmehr stellt er die Musik ganz in den Dienst der Worte. Den fünf Strophen des Gedichts entsprechend, unterteilt er Voyage in fünf Sätze: »Ich wollte die Bedeutung des Textes so gut wie möglich in der Musik porträtieren. Denn allein wenn ich das Gedicht nur lese, höre ich sofort Musik. Und genau jene Klänge wollte ich niederschreiben.«
Leonie Reineke
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