
Der Raum, in dem wir uns befinden, ist noch hell, als wir Platz nehmen. Vorne sitzen die zwölf Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, auf dem Podest des Dirigenten steht Timo Kreuser, der künstlerische Leiter des Ensembles PHOENIX 16. Er gibt noch kurz Anweisungen, dann verlässt er die Bühne. Aus dem hinteren Teil des Raumes tönt seine Stimme: „…und – black!“ Alle Lichter verschwinden. Im nächsten Moment geht die Welt unter.
Zuerst nimmt man nur ohrenbetäubenden Krach wahr. Durch die Dunkelheit wird der Gehörsinn geschärft und die maschinellen Geräusche hämmern in unmenschlicher Lautstärke auf einen ein. Sie sind unausweichlich, unnachgiebig. Dann kommt das Licht dazu, doch auch das bietet keinen Schutz. Es ist kalt, manchmal zuckt es wie Blitze um einen herum, manchmal bewegt es sich in so unkontrollierten Formen, dass man das Gefühl hat, der ganze Raum werde aus den Fugen gehoben. Und manchmal hat man das Gefühl, dass es ein Suchscheinwerfer ist, der versucht einen zu finden, um einen komplett auszuliefern und wie auf dem Präsentierteller hinzulegen, ohne Möglichkeit, sich zu verstecken.
In einem Moment, als der ganze Raum für wenige Sekunden in gleißend weißes Licht getaucht ist, kann man die Sänger sehen. Manche von ihnen halten sich die Ohren zu, einer hat sein Gesicht in seinen Händen vergraben. Verständlich, denn die Geräusche, die auf einen einprasseln, sind schwer auszuhalten. Sie tun einem nicht körperlich weh, aber sie dringen zu einer tiefen, instinktiven Ebene vor, auf der es nur noch um “fight or flight” geht. Wir sind bei dieser Generalprobe ca. 25 Personen im Raum, doch den Geräuschen sieht sich jeder allein ausgeliefert. Jeder muss für sich entscheiden, wie er damit umgeht oder eher, wie er damit umgehen kann. Entweder man wehrt sich, hält sich die Ohren zu und versucht so vieles wie möglich auszublenden und sich gegen die feindliche Umwelt zu isolieren oder man ergibt sich dem Ganzen, lässt die Sammlung an Geräuschen über einen hinüber brausen und nimmt sie auf, auch wenn es unangenehm ist, auch wenn man das Gefühl hat, es schwer zu ertragen zu können. Währenddessen zucken die Lichter weiter über die Wände und nehmen einem jegliche visuelles Raumgefühl. Das, was wir hören, ist brutal, manche Geräusche sind abstrakt und undefinierbar: Knacken, Knallen, unglaublich hohes Quietschen und Kreischen, doch ab und zu lassen sich Formen ausmachen. Schüsse, die durch den ganzen Raum hallen, ein abstürzendes Flugzeug, das Zusammenbrechen eines Gebäudes, das laute Störsignal eines Radios, das nichts mehr sendet. Krieg, Verwüstung, Leid, der Name des Stückes: „Agony“- ein Todeskampf.
Dann geht das Licht an, diesmal das richtige Licht und nicht mehr der Scheinwerfer. Die Sänger stehen bereits. Sie eröffnen das nächste Stück mit einem enorm lauten Cluster. Meistens rufen Cluster in mir ein sehr beklemmendes Gefühl hervor, vor allem, wenn sie vokal erzeugt werden. Es klingt wie viele Menschen, die durcheinander schreien. In der Situation, in der wir uns aber befinden, im Kontrast zum eben Gehörten, wirkt es einfach nur vertraut. Man kann es begreifen bzw. man weiß, mit was man es zu tun hat. Diese Laute kommen tatsächlich aus einem menschlichen Mund und nicht aus einer Maschine, vielleicht drücken sie Leid aus – aber es ist wenigstens Leid, dessen Ausmaß sich nicht unermesslich anfühlt. Insgesamt besteht das Stück aus menschlichen Geräuschen, mal klar heraushörbar, mal mehr und mehr ineinander verwoben, aber immer körperlich und nie fremd.
Da Seltsame ist, auch wenn das erste Stück beängstigend war und sicher nicht für Leute mit Angststörungen geeignet, habe ich es trotzdem als bereichernd empfunden. Es mag zwischendurch schwer sein, sich zu erinnern, dass man ein Mensch ist und nicht nur ein verängstigtes Wesen mitten in einem Kriegsgebiet aus Klang, doch es hat etwas berührt und es hat das Erleben der Vokalwerke umso intensiver gemacht gerade für ein Programm mit einem gewissen politischen Aspekt, wie ihn die “Balkanroute” nun mal hat, werden Stücke gebraucht, die die Menschen erreichen. Wenn auch nicht immer aus positive Weise.
[…] UltraschallReporter Lea Kolesnyk (17), am 21. Januar 2017: […]