In unserem heutigen Verständnis von moderner Musik definieren wir sie als direkten Nachfolger der Spätromantik vertreten durch Wagner und Schönberg. Doch Daniel Gloger wies mich in folgendem Interview auf die überraschend starke Verbindung zwischen neuer Musik und Kirchenmusik hin.
Sie haben mit Kirchenmusik angefangen und sind Countertenor geworden weil sie diese außergewöhnliche Benutzung ihrer Stimme interessiert hat. Wie hat sich bei ihnen die Verbindung von Kirchenmusik zur neuen Musik aufgespannt? Wie sind sie dahin gekommen?
Es war so, dass ich in Stuttgart, damals als ich noch sehr jung war – 17 Jahre alt – einen ganz großartigen Chorleiter hatte. Manfred Schreier, mit den Neuen Vokalsolisten auch in anderen Zusammenhängen musikalisch tätig war. Er war auch Kirchenmusiker. Für ihn fielen zum Beispiel die Musik von Dieter Schnebel oder eben auch neue Musik in der Kirche unter das Genre Kirchenmusik. Auch die Musik Luigi Nonos, von dem man das ohne weiteres vielleicht nicht vermuten würde, dass er dort hin passt. Aber er passt klanglich extrem gut. Manfred Schreier hat immer Programme gemacht, die das gesucht haben und immer diese Verbindungen zwischen Kirchenmusik und neuer Musik hergestellt. Deswegen ist es halt gerade so, das diese historische Musik, die ich gemacht hab, sehr viel krasse Sachen beinhaltet. So die Musica Ficta, Musik von der man gar nicht so richtig weiß, wie man die aufführen soll. Stücke, die man mit reinem Intervallen singt. Auch da existiert ja das Phänomen der Mikrotonalität. Es gibt ja die Mikrotonalität in der alten Musik auch. Sie heißt da nur anders.
Sie meinen die Mikrotonalität, die durch die wohltemperierte Stimmung entstand?
Genau. Und das ist ja was, was die Stimme ja auch immer macht. Im Sinfonieorchester spielen letztendlich Bläser in nicht wohltemperierter Stimmung, sondern in der antiken Pentatonik. Aber wir, mit der Stimme, gerade wenn man Musik des 15. und 16. Jahrhunderts singt, total. Und da sind natürlich Mikrotöne. Die Terz und die Septime sind sehr viel tiefer. Das geht schon in Richtung Sechstelton. Auch Zeit wird völlig anders wahr genommen. Es gibt eine Komposition von Kapsberger zum Beispiel, wo ein Lautenbass über einfache Akkorde wirres Zeug in 11, 13, 17 Sechzehntel pro Takt spielt. Völlig frei. Wie im Free Jazz, von der Idee her. Da gibt es für mich unglaublich viele Verbindungen, und dann auch im Klang wie beim Bockstriller. Es gibt so viele klangliche Möglichkeiten, in der Renaissancemusik und im Mittelalter ganz besonders, die in der neuen Musik alle wieder eine Rolle spielen. Sodass eher in der symphonischen Musik, wo das Bürgertum am Werk war, vieles dergleichen reduziert wurde. Da hat man eher gesagt: „So, das müssen jetzt alle nachspielen können.“ Alle Amateure wollten das tun. Drumherum, ganz früher und heute, da gibt es ganz starke Verbindungen.
Die Entwicklung der Mehrstimmigkeit in der frühen Renaissance fing ja auch ohne Takte an.
Total! Und die Musik von Perotin zum Beispiel, die genau so einen Choral hat, in welchem irgendein Wahnsinn in den hohen Stimmen erklingt. Denn ein Taktschema ist da nicht wirklich wahrzunehmen. Insbesondere nicht bei der Uraufführung in Notre-Dame. Wenn Sie sich vorstellen, wie das da geklungen haben mag. Das war einfach ein großes, irres Klangbad im Sinne von einem modernen Rockkonzert. Viel eher, als das, was wir heute mit der historischen Aufführungspraxis verbinden, wo wir eher Lust haben zu sezieren.
Danke für das Interview Herr Gloger.
Fazit: All diese aufgezählten Gemeinsamkeiten alter und neuer Musik stellen eine nachvollziehbare, aber nicht unumstrittene Verbindung zwischen alter und neuer Musik her. Doch bleibt außer Frage, dass zeitgenössische Komponisten sich auch der Ursprünge abendländischer Musik bedienen.
Denn wer von den ersten Beginnen der Polyphonie ausgeht, dem sind heute nahezu keine Grenzen gesetzt und alle Wege zum Beschreiten einer neuen Mehrstimmigkeit offen.
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