Wer damit rechnete, beim Auftaktkonzert des Festivals Ultraschall Berlin direkt ins eiskalte Wasser geworfen zu werden, irrte: Der Zuschauer wurde bei der Hand genommen, um dann langsam in wohltemperierten, seichten Wohlfühlkitsch hineinzuwaten. Wer moderne Kunst erwartete, war enttäuscht. Um den letzten Hauch von Spannung von den Schultern der experimentierfreudigen Zuhörer zu nehmen, erzählte Festivalleiter Andreas Göbel vor jedem Stück noch einmal genau, was gleich passieren würde. Dirigent Kristjan Järvi kündigte vor dem Konzert noch an, es werde ein Konzert, bei dem man sich „einfach zurück lehnen“ solle. Schön. Aber vielleicht auch ungeeignet für den Eröffnungsabend eines Festivals für Neue Musik.
Die radikalsten Klänge vernahm ich von der Dame hinter mir, die erst sämtliche Reisverschlüsse ihres Rucksacks einmal öffnete und wieder schloss, um dann, nach diesem lautstarken Materialtest, ausgiebig in einer Bonbontüte zu kruschteln. John Cage hätte seine Freude gehabt. Kurz darauf entschloss sie sich zu kräftigem Abhusten. Dass sie damit den seidendünnen Streicherfaden, den Kristjan Järvi mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter allergrößter Mühe und Präzision zur gleichen Zeit auf der Bühne des großen Rundfunksaals des RBB zu spinnen versuchten, zerstörte, nahm sie dabei in Kauf. Abgesehen von diesem kleinen Nebenschauplatz war nicht viel Avantgarde zu hören.
Kompromissloses Brechen der Hörerwartungen – das wollten Schönberg, Berg und Co. mit ihrer neuen Wiener Schule in den 20er Jahren bezwecken und leiteten damit die Ära der Neuen Musik ein. Und genau das ist jetzt auch den Programmgestaltern des Ultraschall-Festivals geglückt. Denn keiner hätte damit rechnen können, dass zum Auftakt dieses Festivals so ein konformes und harmonisches Programm gegeben würde. Schöne Musik, aber einfach im falschen Kontext. Auf der Bühne lief mittlerweile irgendwas zwischen Grieg und Gershwin. Pause.
Bevor es weiter ging, fasste Andreas Göbel nochmal den Text aus dem Programmheft zusammen: Die Genregrenzen sollten im zweiten Teil des Konzerts aufgehoben werden. Jazz und Hip-Hop erhielten Einzug ins Programm. Aber nur weil man behauptet, es gebe keine Genregrenzen mehr, bedeutet das nicht, dass man nicht in allen Richtungen experimentelle Musik um Haaresbreite verfehlt hat. Meine Suche nach neuen Tönen erklärte für dieses Konzert für beendet.
Der Jazz-Saxophonist James Carter betrat die Bühne, offenbar mit der festen Absicht, die Veranstaltung zu retten. Seine Improvisationen waren enorm virtuos und innovativ. Schnell wurde deutlich, dass man den Jazz doch lieber Jazzmusikern überlassen sollte. Während Carter die Situation fest im Griff hatte, schaffte es Järvi trotz wildem Tänzeln auf seinem Podest nicht, das Orchester zum Swingen zu bringen.
Mit einer herausragenden Solo-Improvisation konnte James Carter das Konzert dann alleine doch noch zu einem versöhnlichen Ende bringen und sein Publikum musikalisch wieder ins Jahr 2016 führen.
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