I Sehr ruhig – Recht bewegt – Durchaus lebhaft und impulsiv
II Sehr ruhig – Sehr schnell, gleichsam vorbei huschend
III Sehr schwungvoll
York Höller – vor wenigen Tagen, am 11. Januar 2023, hat er seinen 79. Geburtstag gefeiert – ist bei Ultraschall Berlin 2023 mit einer seiner jüngsten Kompositionen vertreten: mit dem Doppelkonzert für Violoncello, Klavier und Orchester. Er hat es als Auftragswerk für das Klavierfestival Ruhr geschrieben. In diesem Rahmen wurde das Stück im Juni 2022 in Mülheim an der Ruhr von der Cellistin Marie-Elisabeth Hecker und dem Pianisten Martin Helmchen gemeinsam mit dem Kölner Kammerorchester und Christoph Poppen uraufgeführt. Wenige Tage nach dieser Uraufführung wurde das Doppelkonzert bereits in Köln vorgestellt und im September 2022 spielte es die Kremerata Baltica mit dem Solist:innenpaar der Uraufführung bei der Kronberg Academy.
Wie bei Elena Mendozas Stilleben mit Orchester reichen auch bei York Höllers Doppelkonzert die Anfänge der Arbeit in die bleierne Zeit des durch Covid-19 bedingten Lockdowns zurück. Dies hat er anschaulich in einem Werkkommentar dargelegt: »Der Beginn der Arbeit an meinem Doppelkonzert im März 2020 fiel mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zusammen. Das nie zuvor erlebte Geschehen und die mit ihm verbundene Ungewissheit über die Zukunft verunsicherte mich wie viele andere und lähmte zunächst meine kreativen Impulse. Die stets nach Anregung Ausschau haltende Imagination war geneigt, sich ›dunklen‹ Sphären, insbesondere Autoren wie z. B. Hans Henny Jahnn und anderen zuzuwenden. Ich erkannte jedoch recht bald die möglicherweise deprimierenden Rückwirkungen auf das Projekt.«
In dieser Situation kam dann überraschend für York Höller Rettung – in Form von Zwölftonklängen. Der Komponist hat dies so geschildert: »Da ich mich einer solchen Stimmung nicht ausliefern wollte, und um meinem Zögern ein Ende zu bereiten, setzte ich mich schließlich ans Klavier, griff mit beiden Händen entschlossen in die Tasten und schlug einen komplexen zwölftönigen Akkord an, der sich spiegelsymmetrisch um den von keinem der zehn Finger mehr gleichzeitig anschlagbaren Zentralton d1 gruppierte.« Eine bemerkenswerte Erfahrung, die genau das Gegenteil des berühmten Falles von York Höllers Kollegen Giacinto Scelsi darstellt: Dieser hatte sich Anfang der 1940er Jahre von der Reihentechnik Arnold Schönbergs und Alban Bergs abgewandt. Scelsi wurde danach nicht müde zu erklären, die Zwölftonmusik habe seine Nerven zerrüttet. Dass viel positivere, geradezu heilsame Folgen eintreten können, beweist das Erlebnis von York Höller im Jahr 2020. Der von ihm erwähnte zwölftönige Akkord stellt den Ausgangsimpuls für den ersten Satz seines Doppelkonzerts dar. Im Stück intoniert die Streichergruppe diesen komplexen Akkord mit ansteigender und abschwellender Dynamik. Dann haben die beiden Soloinstrumente ihren Auftritt: »Nach einem kleinen, in gleichmäßigen Auf- und Abwärtsskalen sich bewegenden ›Vorhang‹ im Klavier entfaltet das Cello aus dem Zentralton heraus markante Tonfiguren, die sich nach und nach zu einer 21-tönigen ›Klanggestalt‹ entfalten, die samt den in ihr enthaltenen Grundakkorden und dem Prinzip der ›permanenten Durchführung‹ die Struktur des ganzen Werkes bestimmt«, hat York Höller in seinem Werkkommentar erläutert.
Das Konzept dieses für sein Komponieren zentralen Konzepts der »Klanggestalt« hat York Höller 2010 in einem Vortrag kurz umrissen, gehalten als Preisträger anlässlich der Verleihung des prestigeträchtigen Grawemeyer Award an der University of Louisville in Kentucky: »Eine Klanggestalt ist mehr als die Summe ihrer Töne. Sie ist ein Gebilde, das alle zwölf Töne der chromatischen Skala enthält, sie aber nicht seriell addiert, sondern unter Gesichtspunkten einer quasi organischen Entwicklung einsetzt.« Höllers Klanggestalt ist zunächst eine Melodielinie. Aber sie ist noch mehr: Sie lässt sich in verschiedene Segmente unterteilen, die in der Vertikalen mehrere Akkorde mit unterschiedlichen Klangcharakteren ergeben. Daraus zieht York Höller in seinen Kompositionen darüber hinaus Konsequenzen beispielsweise für die Periodenbildung und für den Rhythmus. »Man kann die Klanggestalt als eine Art genetischen Code betrachten, der alle wesentlichen Aspekte der musikalischen Struktur und Form eines Werkes in sich trägt. Aber der Code ist nicht der Schöpfer. So gibt es keinen Automatismus in der Anwendung des Codes. Deshalb arbeite ich mit verschiedenen Verfahren der Variation und der Durchführung«, erklärt York Höller weiter im erwähnten Vortrag an der University of Louisville. Die deutsche Übersetzung des Vortrags trägt den Titel Zwischen Strenge und Fantasie.
Dass in diesem Zusammenhang für York Höller auch klassische Formen kein alter Hut sondern, sondern als feste Rahmen die kreativen Ideen sprudeln lassen können, demonstriert sein Doppelkonzert eindrucksvoll. Im Werkkommentar schreibt der Komponist zur Großform: »Das Doppelkonzert hat – ähnlich wie mein Violakonzert von 2017 – eine klassische dreisätzige Anlage. Die kompositorische Herausforderung bestand dementsprechend sowohl im kreativen Umgang mit diesem traditionellen Formtyp als auch in den ständig neu zu konstituierenden Beziehungen zwischen den beiden Soloinstrumenten einerseits und dem Orchester andererseits.«
Was York Höller lapidar als »permanente Durchführung« bezeichnet, ist ein Füllhorn der Klangimagination, an unterschiedlichen Gesten und Konstellationen im Orchester in Verbindung mit den Solopartien von Cello und Klavier. Hier wird sofort wieder sinnlich nachvollziehbar, weshalb York Höller gerne als »Klangzauberer der Neuen Musik« bezeichnet wird. Im ersten Satz des Doppelkonzerts gelingt außerdem praktisch die Quadratur des Kreises: York Höller erzielt gleichzeitig Konzentration und eine ungemein ausdifferenzierte Verbreiterung mit Tiefenwirkungen, das Kleine greift ins Große und umgekehrt. Die Intensität in den Dialogen von Solocello und Klavier erreicht den Charakter intimer Kammermusik, in der Auseinandersetzung der beiden Soloinstrumente mit den Orchestermassen wiederum greifen die Interaktionen in die Weite. Beide Tendenzen gehen übergangslos ineinander über und verquicken sich in schnellem Wechsel, voller Energie, mal ruppig, mal kapriziös, dann plötzlich zu melancholischen und introvertierten Momenten wechselnd.
Im langsamen Mittelteil kreiert York Höller betörende Passagen. Er schafft den Solisten Raum, sich gemeinsam mit dem Orchester zu entfalten. Klavier und Violoncello gehen eine enge Symbiose ein. Hier wird deutlich: Es geht nicht um eitlen Widerstreit der beiden Solopartien, sondern um Ergänzung. Das Prinzip Doppelkonzert wird bei York Höller vom musikalischen Material aus begründet, zu dem beide Soloinstrumente gemeinsam ihren Teil beitragen. Das Finale feiert dann dieses Gleichgewicht zwischen den Solopartien und dem Orchester mit vielfältig eingesetzten motorischen Energien. Dieses Geben und Nehmen auf Augenhöhe führt zu ausgelassenen Tanzmusiken, die immer wieder neue Anläufe nehmen und zwischendurch auch gegen den Strich gebürstet werden. York Höller, der auch ein erfahrener Musikdramatiker ist, seine Oper Der Meister und Margarita (Paris 1989) wird bis heute in Neuinszenierungen auf internationalen Bühnen gezeigt und hat somit bereits ihren Platz im Repertoire eingenommen, weiß im Finale seines Doppelkonzerts mit pointierter Dramaturgie die Energieströme zu koordinieren und markante Kontrastmomente einzusetzen. Eines der Geheimnisse für sein Gespür, Klänge in solch einen tragenden Zusammenhang zu bringen, mag an seinem Prinzip liegen, jeden Klang im spezifischen Kontext zu betrachten. Dies hat er schon in einem frühen Essay dargelegt. Darin heißt es: »An die Stelle der reinen Präsenz eines musikalischen Gedankens tritt seine Einordnung in sein Beziehungsnetz.«
Auch jenseits der strukturellen Zusammenhänge in der Musik, etwa bei der Zusammenarbeit mit den Solist:innen seines Doppelkonzerts, Marie-Elisabeth Hecker und Matin Helmchen, hat York Höller diesen wachen Blick für ein Beziehungsnetz bewiesen. Der Komponist, der auch ausgebildeter Pianist ist, stand bei der Arbeit am Doppelkonzert über die Kommunikationswege, die während der Lockdowns möglich waren, im Austausch mit den beiden Solist:innen. Auf diese Weise hat er die Solopartien so komponiert, dass sich die individuellen Qualitäten beider Künstler:innen in den herausfordernden Einsätzen wunderbar entfalten können und gleichzeitig seine Klangvisionen aufs Glücklichste Gestalt annehmen. Nach der Uraufführung in Mülheim an der Ruhr jubelte die Neue Ruhr Zeitung:»Wenn die beiden Protagonisten sich Klanggebilde hin und her werfen, vom Orchester mal rhythmisch, mal lyrisch anmutend aufgefangen, sich auch mal aufs Engste miteinander verweben, dabei in sphärisch flimmernde Gefilde abdriften, allerdings flugs auch wieder dramatisch auftrumpfen, ist das ein Hochgenuss sondergleichen.«
Eckhard Weber