Einen anderen Weg der nachträglichen Erweiterung eines älteren Stückes wählte Turgut Erçetin, dessen kompositorische Arbeiten oft in engen Zusammenhängen mit Raum- und Psychoakustik sowie mit computergestützten Techniken stehen. Aufgewachsen in Istanbul, prägte ihn die spezifische Klanglandschaft seiner Heimatstadt schon als Jugendlicher. Sich künstlerisch mit Klang zu beschäftigen bedeutet für Erçetin keineswegs, nur über Tonhöhen und Rhythmik nachzudenken, sondern auch über reale wie künstliche Raum- und Zeitstrukturen.
Seine Komposition Deng, die 2012 durch das Ensemble Adapter uraufgeführt wurde, hat er zu einem dreiteiligen Zyklus erweitert, worin das Ursprungsstück unverändert als zweiter Satz enthalten ist. Den ersten Satz der neu entstandenen Komposition Panopticon Specularities bildet ebenfalls ein bereits existentes Werk, das Erçetin für das ensemble mosaik und Harfe arrangiert hat. Der letzte Satz hingegen ist vollständig neu, geschrieben für großes Simultanensemble und mehrere Sub-Ensembles mit ineinandergreifenden Tempi und Formschemata. Der Komponist bezeichnet diese Teilung als ein Zusammenwirken vier verschiedener ›Kerne‹, die zwar ein gemeinsames musikalisches Netz spinnen, aber durch eine räumliche Distanz zueinander ihre Unabhängigkeit wahren können. Zusammen bilden sie einen vielschichtigen Organismus.
»Mein Ziel ist es«, so Erçetin, »durch die räumliche Aufteilung der Ensembles für den Hörer die Möglichkeit zu schaffen, die komplexen akustischen Informationen ›hochaufgelöst‹ wahrnehmen zu können, um die Polyphonie des Werks greifen und verfolgen zu können.« Zudem arbeitet Erçetin gezielt mit variierenden Distanzen und Höhenpositionen der Instrumentalisten. So gelingt es ihm, den Einfluss natürlicher Richt- und Ausbreitungsfaktoren jeder einzelnen Schallquelle mit in den Raum ›hineinzukomponieren‹. Dass das Kollektiv in seiner Gesamtbesetzung erst im letzten Drittel von Panoptican Specularities zum Einsatz kommt, stellt eine äußerst wirkungsvolle Auffächerung des Klangspektrums dar. Plötzlich kann der Hörer das Geschehen aus multiplen Blickwinkeln – wie durch ein Kaleidoskop – betrachten, wobei Farbtöne und Mischverhältnisse immer wieder variieren.
Leonie Reineke
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