»Beginne mit einem Erdbeben – und steigere Dich langsam.« Billy Wilders Ratschlag zur Drehbuchgestaltung könnte auch Pate stehen für das Solo-Recital von Séverine Ballon, das zwar auf Erdbeben verzichtet, sich aber musikalisch von erdgeschichtlichen Phänomenen bis ins Weltall vorarbeitet.
Der amerikanische Komponist Timothy McCormack ist der Geologe unter den Komponisten. Etliche seiner Werke führen geologische Fachbegriffe im Titel, so zum Beispiel das vom Ensemblekollektiv Berlin uraufgeführte KARST. Das gilt auch für jenes Werk, das McCormack 2013 für Séverine Ballon schrieb. Drift Matter ist Teil einer Werkreihe, die geologische Verschiebungen (wie die Kontinentaldrift) als musikalische Metaphern verwendet.
Die Arbeitsmetapher für Drift Matter war, so McCormack, die Gletscherdrift. »Der Begriff umfasst alle Arten geologischen Materials, das durch Gletscheraktivitäten entwurzelt, verschoben und abgelagert wird, unabhängig von seiner Größe oder Ähnlichkeit. (…) Drift Matter stellt ein solides Terrain dar, auf dem unvollständige Brocken von Klangmaterial ungeordnet ausstreut werden und sich gegenseitig unterbrechen, vernebeln und irritieren.«
In Drift Matter gebe es, so sagt McCormack, sowohl sperriges supraglaziales als auch kleinteiliges proglaziales Material: erratische Blöcke, also massive Felsen in einer fremden Umgebung, Moränen mit kleineren Gesteins- und Erdstücken sowie Sedimente, die kleine Partikel, die sich an anderem Ort wieder verfestigen und zu neuen Erdschichten verfestigen können. Die Analogie zu kompositorischen Verfahrensweisen wird unmittelbar deutlich.
»Die verschiedenen Klangwelten prallen immer wieder aufeinander und brechen einander auf, das ›musikalische Objekt‹ wird immer nur teilweise enthüllt. Sowohl Formteile als auch bestimmte Materialstränge sind hörbar aus dem Gleichgewicht geraten, wobei einige sperrige Objekte andere verdecken.«
Rainer Pöllmann