Die Flamme ist der Titel eines Gedichts von Christian Morgenstern aus dem Zyklus Vier Elementarphantasien, 1897 in der Gedichtsammlung Auf vielen Wegen erschienen. Das Gedicht beginnt mit dem Klagelied einer Kerzenflamme, die zu verlöschen droht: »so sterben zu müssen – auf einer elenden Kerze! thatenlos«. Sie spürt eine unverbrauchte Energie in sich – und macht bald davon Gebrauch, indem sie zunächst über einen Funken auf einem Mantel das Zimmer, wo die Kerze flackert, in Brand steckt. Bald brennt das gesamte Haus lichterloh und die Flammen springen auf die benachbarten Gebäude über. Das Ganze endet in einer Vision eines alles verheerenden Flächenbrandes: » dann wollen wir mit Wäldern die Fische in den Flüssen kochen / und ich will euch hinauftreiben auf die kältesten Berge / und da droben sollt auch ihr meine Opfer werden, sollt ihr meine Todesfackeln werden / und dann wird alles still sein / und dann«.
Dieser Text ist in seiner Dramatik, seiner Exaltiertheit und seinem grotesken Zug genau das Richtige für einen Musikdramatiker wie Thierry Tidrow. Als Jugendlicher in seiner Heimat Ottawa hat er als Countertenor Erfahrungen mit dem Theatralen in der Musik sammeln können, seit 2019 ist er für mehrere Spielzeiten Composer in Residence an der Oper Dortmund. In diesem Rahmen komponiert er nicht zuletzt auch Musiktheater für Kinder und Jugendliche. Sein Duo Die Flamme ist das erste Stück eines fast fertiggestellten Zyklus auf die Texte sämtlicher Vier Elementarphantasien von Christian Morgenstern. In Die Flamme, dieser Schilderung eines brandschatzenden Vernichtungsfeldzugs gegen die gesamte Menschheit, haben Thierry Tidrow vor allem die tragikomischen und grotesken Seiten angesprochen, zudem »dieser schnelle Wechsel zwischen Direktheit und Pathos, dieser düstere Humor und das extrem Manierierte: alles ist extrem melodramatisch und übertrieben, es hat etwas von Camp«, so der Komponist im Interview für Ultraschall Berlin.
Die Form die er für die kompositorische Umsetzung dieser Vorlage gefunden hat, bewegt sich zwischen Lied, Rezitativ, Monodie und dramatischer Szene, entsprechend dem Morgenstern-Text, der zwischen Monolog, Prosa und Lyrik schillert. Der Sopranpart ist eine performative Tour de Force, bei der nahezu sämtliche musikalische und theatrale Register von der Interpretin gezogen werden können. Das Panorama reicht vom opernhaften Aussingen bis zum expressiven Sprechgesang und Sprechen, Brust- und Kopfstimme wechseln ab, Flüstern, Schreien, Bellen und Wiehern sind gefordert.
Die Klarinette wiederum präsentiert sich in diesem Duo als genauso wendig. »Sie changiert in ihrer Funktion und im Verhältnis zur Singstimme«, erläutert Thierry Tidrow, »mal ist sie musikalisch ganz nah beim Sopran, beide sind dann die Flamme. Ein anderes Mal steht die Klarinette für die Dinge, die angesprochen werden, sie bellt wie ein Hund, sie illustriert, sie färbt, sie deutet die Gedanken der Flamme und sie konterkariert das Behauptete zuweilen.« Die Klarinette kann somit ebenfalls praktisch ihre gesamte suggestive instrumentale Gestaltungspalette einsetzen, natürlich auch das breite Repertoire ausgeweiteter Spieltechniken, Luftgeräusche, laute Griffe, Trillerglissandi, Atemgeräusche, Multiphonics, Überblasen, Flatterzunge und vieles mehr. Als eine lustvoll überbetonte »hypermadrigalistische Herangehensweise« bezeichnet Thierry Tidrow seine kompositorische Verarbeitung des Morgenstern-Gedichts. Seiner Meinung nach eine groteske Auseinandersetzung mit dem Todestrieb: »Es hat mit einem zerstörerischen Ehrgeiz zu tun, die Flamme will immer größer werden. Für mich ist dies auch eine Metapher für die Menschheit und die Gier des Kapitalismus, immer höher, weiter, größer …«
Eckhard Weber