Die Inspiration für sein neues Werk Die Einfachen erhielt Sergej Newski 2017 durch die Forschungen zur Geschichte der Sexualität im postrevolutionären Russland der 1920er-Jahre, die Irina Roldugina von der Universität Oxford angestellt hatte.
In den frühen 1920er-Jahren reiste der berühmte Neurologe Vladimir Michajlovic Bechterev durch Russland und hielt eine Reihe von Vorträgen über die Natur der Sexualität. Sein Publikum bestand nicht nur aus Studenten, sondern auch aus Arbeitern und Bauern. Nach Bechterevs Vorträgen schrieben einige seiner Zuhörer über ihre persönliche Suche nach einer neuen sexuellen Identität.
Unter ihnen war der Sibirier Nika Poljakow, der gestand, seine Homosexualität in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckt zu haben. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Nika in Deutschland studiert, wo er zusammen mit seinem Freund Stepan Minin interniert war. Nach der Revolution kehrte er nach St. Petersburg zurück, doch in der Sowjetunion der 1930er-Jahre, unter Stalins Herrschaft, wurde Homosexualität für illegal erklärt. Nika wurde vom NKWD, dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, verhaftet und verhört, danach ist nichts mehr von ihm bekannt.
Die Geschichte von Nika Poyakov unterscheidet sich nicht sehr von der zahlreicher anderer russischer und ukrainischer Homosexueller, deren Zeugnisse Irina Rodulgina in über zehnjähriger Forschungsarbeit zusammengetragen hat. Aus den Fäden dieser vergessenen Stimmen hat Newski ein vielstimmiges Musikdrama gewoben, das Licht auf diese wenig bekannten Seiten der russischen Geschichte wirft. Der Titel Die Einfachenbezieht sich auf die Eigenbeschreibung jener, die sich als Teil der homosexuellen Subkultur im Leningrad der 1920er-Jahre verstanden, einer Gruppe, die sich aus Studenten, Arbeitern und Bauern zusammensetzte.
Wie sein vorhergehendes szenisches Werk Pazifik Exil für die sechs Stimmen der Neuen Vocalsolisten, so besteht auch Die Einfachen aus sich überlagernden Monologen, die zuweilen in ein Kammerensemble übergehen. Wie das frühere Werk lässt sich auch Die Einfachen an den jeweiligen Raum anpassen, so dass es als Raumkomposition funktioniert. Nach Pazifik Exil fügt Sergej Newski mit diesem neuen Werk seinen Erzählungen über die Exilanten der Geschichte ein weiteres Kapitel hinzu und beleuchtet längst vergessene Ereignisse, die aus unserem kollektiven Gedächtnis getilgt wurden, uns aber dennoch zu bewegen vermögen. Newskis Werk endet mit den Zeilen aus einem Brief von Nika Poljakow, Zeilen, die noch heute nachhallen: »Keine Gesetze, keine Konventionen werden uns davon überzeugen, dass unsere Handlungen kriminell und abnormal sind, und wir sind sicher, dass die Zeit kommen wird, in der das Recht auf ein freies Zusammenleben anerkannt wird.«
Werkeinführung der Biennale di Venezia