Das immens differenzierte musikalische Denken der Berliner Komponistin Sarah Nemtsov ist nicht zuletzt auch von Farbeindrücken geprägt. Ihre Mutter war die im November 2017 verstorbene Malerin Elisabeth Naomi Reuter. Im Sommer des Jahres, bereits geschwächt von schwerer Krankheit, versuchte sie, ein neues Bild fertigzustellen. Ihre Tochter Sarah half ihr, die Farben auf die Palette zu bringen, und erlebte, wie Elisabeth Naomi Reuter für das Gemälde zielstrebig gewisse Farben auswählte und andere verwarf. Zu dieser Zeit arbeitete Sarah Nemtsov an ihrem Orchesterwerk dropped.drowned und ging dabei in vergleichbarer Weise vor: »Als ich über die Besetzung für das neue Orchesterstück nachdachte, hatte ich so ein Gefühl: Nein, keine Oboen und keine Trompeten. Kein Gold-Gelb (dabei bin ich keine Synästhetikerin!). Ich wollte der Hierarchie überhaupt etwas entgegenwirken«, wie sie in einem Werkkommentar schreibt. Zunächst wollte sie die Oboe, ausgerechnet das Instrument, in dem sie ausgebildet wurde, und die Trompete, die für Sarah Nemtsov der Oboe sehr nah ist, aus der Besetzung auszuschließen. Später hat sie sich nichtsdestoweniger entschieden, Oboen und Trompeten in das Werk zu nehmen, jedoch nicht direkt in das Orchesterkollektiv zu gruppieren: Sie sollen nach einiger Zeit hinter dem Publikum, am besten auf einer Empore gespielt werden. »Ich hatte das Gefühl: Ich brauche sie doch. Sie geben ihre Farben sozusagen in einzelnen Tropfen hinein und gehen dann wieder unter, alles jeweils mit einem elektronischen Zuspiel«, hat Sarah Nemtsov im Interview für Ultraschall Berlin erläutert. Das Zuspiel setze sie ein, »weil ich diese Farben zugleich wieder etwas verunklaren möchte.« Die Oboenklänge werden von den Tönen der Trompeten verfremdet und beide Blasinstrumente subtil im Klang durch die Elektronik verändert. Inspiriert wurde dieses Vorgehen von der künstlerischen Arbeit von Elisabeth Naomi Reuter, wie Sarah Nemtsov im Interview erklärt hat: »Meine Mutter mochte es gerne, eine Farbe mit der anderen zu brechen. Sie hatte dazu eine bestimmte Technik: Wenn sie ganz fein in verschiedenen Schraffierungen übereinander gezeichnet hat, dann hat sie zum Schluss einen Bleistift mit einem extremen Härtegrad genommen und alles noch einmal mit einem Bleistiftschleier aus ganz feinen Miniaturstrichen gebrochen. Und dies noch in mehreren Schichten kreuzweise übereinander. Dadurch erhalten die Farben ein Flirren, ein Irisieren und noch mehr Tiefe.«
Wenn sich in dropped.drowned die auf ähnliche Weise irisierenden Oboen und Trompeten in den Gesamtklang einbringen, haben sich die übrigen Strukturen bereits zusammengefunden, sind dicht und kompakt, prägen auch zunehmend gestische Gestalten aus, Klangflächen, Glissandi, Skalen und polyrythmische Schichtungen. Vorher, zu Beginn wirken die musikalischen Texturen zunächst getupft, als ob sich die Strukturen erst allmählich verfestigen. Darüber hinaus gibt es in dropped.drowned zwei heimliche Soloinstrumente, die beide letztlich im Orchester stets ein Außenseiterdasein fristen: Klavier und Harfe. In Sarah Nemtsovs Komposition sind beide präpariert (als praktisch haben sich hier Haarklammern aus Kunststoff erwiesen), was ihren besonderen Status im Kollektiv markiert. Gleichzeitig entwickeln sich Texturen in den Orchestergruppen gerade ausgehend von diesen Außenseitern – ein bedeutsamer Aspekt dieses Werks. Wenn es am Ende sachte ausklingt, befreien sich Klavier und Harfe von den Präparationen – ein performativer Akt des Loslassens. Dropped.drowned wurde im September 2017 am Staatstheater Cottbus uraufgeführt und 2018 beim Eröffnungskonzert der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik gespielt.
Eckhard Weber