Mit seinem dritten Streichquartett De Arte Respirandi gewann Roberto David Rusconi 2011 den ersten Preis des Kompositionswettbewerbs ZEITklang in Klosterneuburg bei Wien. Die Jury wählte aus rund 80 eingesandten Kompositionen für Streichquartett aus, alles Werke, so die Vorgabe, »die sich mit den veränderten künstlerischen und gesellschaftlichen Bedingungen des 3. Jahrtausends auseinandersetzen und diese in eigenständiger Weise kompositorisch reflektieren«. Rusconi, der damals gerade in Thailand unterrichtete, hat sich in seinem Werk Gedanken über den Kunstbegriff und den Zugang zur Kunst in der heutigen Welt gemacht: Er kritisiert den kommerziellen Warencharakter von Kunst in der vom Kapitalismus geprägten westlichen Welt. Im traditionellen Denken des Ostens hingegen findet Rusconi den Begriff einer Kunst als Weg der Selbsterkenntnis, die das Wesen des Seins und des Lebens enthüllen kann. In diesem Musikverständnis erhält der einzelne Klang einen eigenständigen Wert, anders als in der auf bestimmte Zielrichtungen und Prozesse ausgerichteten westlich geprägten Musik. Rusconis prämiertes Streichquartett trägt den lateinischen Titel De Arte Respirandi, was mit »Von der Kunst zu atmen« übersetzt werden kann. Tatsächlich geht Rusconi in seinem Werk vom Atem aus, der in der östlichen Philosophie Gegenstand vieler Betrachtungen ist: Bewusstes Atmen als Rückkehr zum Wesentlichen, die Konzentration auf die grundlegende Lebensfunktion, um unbelastet und ungestört von äußerlichen Reizen in einen Zustand der Kontemplation zu gelangen, um einen klaren Blick auf die Dinge und um eine tiefere Einsicht zu erhalten. »Die Aufgabe der Ausführenden ist eine genaue Erforschung des Atems als primitivstem und körperlichstem Akt des Lebens und des Spielens. Die ganze Struktur, Phrasierung, Artikulation und Dynamik eines Werkes baut auf Atmung auf und versucht, eine Verbindung zwischen menschlicher Physiologie und dem Produzieren und Hören des Klanges herzustellen«, heißt es in einem Kommentar anlässlich der Uraufführung von Rusconis Werk. Der Komponist bietet seinem Publikum die Möglichkeit, sich auf ein intensives Zuhören einzulassen, sich in den Klang zu versenken – und vertritt damit eine entschiedene Gegenposition zur multimedial befeuerten Reizüberflutung unserer Tage.
De Arte Respirandi geht nicht nur in der Ästhetik, sondern auch akustisch vom Atmen aus und spürt dem Schwingen des einzelnen Klangs nach sowie der Reibung und farblichen Ausweitung, die sich aus einem Zusammenklang ergeben. Struktur und Artikulation werden im Lauf des Stücks immer dichter, differenzierter und komplexer, ohne jemals vom grundsätzlichen Impuls, der im Atem begründet ist, abzuweichen. Die vier Streicher setzen gleichberechtigt immer wieder neu in ihren Vorstößen an. Aus flirrenden Tremoli, Obertönen und Glissandi treten zunehmend expressive Gesten hervor. Die Impulse ähneln einem in Musik gefassten allmählich intensiveren und bewussteren Atmen. Roberto David Rusconi sagt selbst über seine Musik: »Ich würde den Begriff ›organisch‹, benutzen, um meine Kompositionen zu beschreiben, die biographische Metapher ist sehr passend, mein Werk keimt, wuchert und wächst im wörtlichen Sinn zusammen.«
Eckhard Weber