für zwei Klaviere und Orchester (2010)
Seine Komposition Capriccio hat Philippe Boesmans 2010 als Auftragswerk für das Festival Ars Musica komponiert, Belgiens größtes Festival für zeitgenössische Musik, das mehrere Städte des Landes einbindet. Die Uraufführung fand Anfang März 2011 in Lüttich statt, mit dem Klavierduo Katia und Marielle Labèque und dem Orchestre Philharmonique Royal de Liège unter der Leitung von Jean Deroyer. Für Philippe Boesmans bedeutete dies in mehrfacher Hinsicht eine Rückkehr zu seinen Wurzeln: Seit den 1980ern hat sich der Komponist von Brüssel aus vor allem als Opernkomponist international einen Namen gemacht, doch seine Anfänge hatte er in Lüttich. Hier ließ er sich zunächst am Konservatorium zum Pianisten ausbilden und entschied sich danach für die Komponistenlaufbahn.
Philippe Boesmans’ Capriccio ist spieltechnisch anspruchsvoll, jedoch kein vordergründiges Virtuosenkonzert mit zirzensischen Effekten. Auch geht es nicht um einen Widerstreit zwischen den beiden Pianisten auf der einen und dem Orchesterkollektiv auf der anderen Seite. Boesmans reizt die Brillanz der Klaviere und der Orchesterfarben subtiler aus.
Auch wenn der Begriff »organisch« für die Beschreibung von Musik bereits ziemlich überstrapaziert wurde, ist er bei Philippe Boesmans’ Capriccio doch treffend, denn wie bei der Physiologie eines komplexen Zellgewebes setzen sich die verschiedenen Prozesse zu einem Ganzen zusammen: Die beiden Soloklaviere beginnen als Triebfedern, im ersten Klavier erklingt pianissimo eine kurze Wellenfigur in hoher Lage, eher bausteinartiges Pattern als markantes Motiv, das zweite Klavier übernimmt sie. Diese Wellenfigur ist der Ausgangspunkt für vielfältige Drehbewegungen und Läufe, die im Tonraum allmählich ausgreifen. Sie erscheint aber auch mehrfach als Wegmarke im Verlauf des Stücks. So sachte wie die Klaviere begonnen haben treten auch Bläser, Streicher und das farbenreich besetzte Schlagzeug vielfach aufgefächert nach und nach hinzu und führen das Geschehen der beiden Klaviere weiter. So steuert etwa eine Solovioline eine kurze kantable Melodie bei oder eine Solobratsche die Wellenfigur des Anfangs. Lebhaft setzen die beiden Klaviere wieder ein und sind fortan praktisch omnipräsent: Mit filigran gestalteten Läufen, Arpeggien, Aufschwüngen, sich aufwärts und abwärts schraubenden Bewegungen, Umspielungen oder mit gegenrhythmischen Gestalten, zwischendurch auch mit kurzen rhythmisch und motivisch markante Figuren. Solisten und Klanggruppen des Orchesters unterstützen das Geschehen mit differenzierten Anreicherungen: Einzelne Stimmen verdoppeln punktuell die Klavierstimmen, bringen akkordische Akzente, Begleitfiguren oder kurze Kommentare, das Schlagzeug ist mit Melodiefragmenten, Akzenten und Farben gleichwertig beteiligt. Mitunter ergeben sich kleinteilige Dialoge zwischen einzelnen Orchestergruppen und den Klavierstimmen. Auf diese Weise entsteht ein so filigranes wie komplexes Geflecht aus sich stets verändernden Konstellationen verschiedenster minimaler Figuren, die ein klanglich unaufhörlich schillerndes Ganzes mit den beiden Klavieren im Zentrum bilden. Die Perspektiven zwischen Melodielinien und Begleitung ändern sich darin ständig. Aufgrund dieses Zusammenspiels vielerlei kleiner Gestalten könnte Capriccio von Philippe Boesmans mit gewisser Berechtigung tatsächlich als neo-impressionistisch bezeichnet werden.
Eckhard Weber