Philipp Maintz: NAHT (yo no pido a la noche explicaciones). Musik für Violine und Violoncello (1999/2002)
“Ich erwarte vom Brot nicht, dass es mich etwas lehrt, / sondern dass es mir an keinem Tag meines Lebens fehlt. / Ich weiß nichts vom Licht, woher es kommt und wohin es geht, ich möchte nur dass das Licht leuchtet. / Ich fordere von der Nacht keine Erklärungen, ich erwarte sie und lasse mich von ihr einhüllen. / Und so bist du Brot und Licht und Schatten.” So lautet eine Passage eines Gedichts von Pablo Neruda aus dem Zyklus Die Verse des Kapitäns – Liebeslyrik, die nicht die feurige Ungeduld, den Eifer und die Hysterie der Jugend behandelt, sondern die Liebe mit reifer, vertrauensvoller Gelassenheit und einer gewissen lebenserfahrenen Leichtigkeit betrachtet. Den Vers “Ich fordere von der Nacht keine Erklärungen” hat Philipp Maintz für den Titel seiner Komposition NAHT (yo no pido a la noche explicaciones) herangezogen. Was für ein harter Kontrast dagegen das literarische Zitat, das er in der Partitur seiner Musik voranstellt: Ein schockierender Ausschnitt aus dem 1995 erschienenen Roman Nox von Thomas Hettcher, wo der Ich-Erzähler detailgetreu schildert, wie er von seiner Geliebten erstochen wird. Bereits zwei Sätze daraus vermitteln einen Eindruck der Drastik: “Von links nach rechts schnitt sie, und die scharfkantige Wunde klaffte sofort weit auf. Tief schnitt sie in Muskeln und Fleisch, trennte den Kehldeckel vom Kehlkopf, durchschnitt Halsschlagader und Schilddrüsenschlagader, kappte mir Luftröhre und Speiseröhre, und schnitt noch tief in einen Halswirbel hinein.”
Sein Duo-Werk hat Philipp Maintz 1999 komponiert, jedoch in den folgenden drei Jahren immer wieder überarbeitet. Dieses Werk ließ ihn offenbar nicht los, Erfahrungen der Aufführungen kamen hinzu, er hat revidiert, erweitert und herausgenommen. Zwischen den beiden literarischen Inspirationen bewegt sich das Stück. Maintz hat darüber gesagt:
“Beide reißen/rissen für mich einen Assoziationsraum auf, in dem sich eine Musik entfaltet, die Inneres nach außen kehren möchte, wie das halbsehende Hineingeheimnissen in nächtliche Schatten, wie das verworren Figürliche der Einflüsterungen des Unterbewussten, die sich durch unsere Träume schleichen, das seinen Antrieb immer wieder an der selben Stelle findet: dem neugierig erschreckten Wissen-Wollen. Zwiespalt zwischen Neugier und Furcht.”
Das von Maintz komponierte Zusammenspiel von Violine und Violoncello wirkt verstörend zaghaft, fragil und gefährdet. Diese Musik gibt sich mal zärtlich, aber auch stellenweise brutal. Und eine weitere Bedeutungsebene verbirgt sich darin, zur Unkenntlichkeit abgeschabt, wie in einem vielfach überschriebenen Palimpsest: Material aus Johann Sebastian Bachs Choralbearbeitung Aus tiefer Not schrei ich zu Dir aus dem dritten Teil der Clavierübung.
Ruben Sverre Gjertsen: Duo für Viola und Kontrabass (2007)
In seinem Duo für Viola und Kontrabass präsentiert der aus Norwegen stammende Komponist Ruben Sverre Gjertsen auf engstem Raum eine ungeheure Vielfalt an Spieltechniken. Er hat versucht, diese in seiner Partitur ungeheuer differenziert zu fixieren: Sowohl die Bratsche als auch der Kontrabass haben bei Gjertsens Duo in ihren Stimmen jeweils drei Systeme zur Verfügung: Ein System zeigt die zu spielenden Noten mit dem jeweiligen Fingersatz, ein zweites System gibt Angaben zur Bogenführung und ein drittes System schreibt die Position des Bogens auf den Saiten vor. Der Komponist spricht im Zusammenhang mit seinem Stück von “porösen und fragilen Klangmassen” und von “stumpfen” und “nasalen” Tonfärbungen.
Zwischen diesen aufgerauten, löchrigen, schrundigen und körnigen Texturen tauchen an einigen Stellen Fragmente aus Maurice Ravels Sonatine für Klavier fis-Moll, die von 1903 bis 1905 entstanden ist, auf. Ruben Sverre Gjertsen versteht diese Zitate, die er für die Streicherstimmen transkribiert hat, als “Erinnerung an geigerische Virtuosität aus einer anderen Epoche”. Stellt die Übertragung der kurzen Passagen aus dem originalen Klavierwerk auf die Streichinstrumente schon eine Brechung dar, wird dieser Eindruck der Verfremdung und die bewusste Distanz zum historisch entfernten Referenzobjekt noch intensiviert durch mikrotonal eingefärbte Varianten dieser Zitatsplitter. Am Ende des Stücks konzentriert sich Gjertsen auf die tiefen Lagen des Kontrabasses, ja er entwickelt das Stück zu einer “Studie über die Schwerkraft des Kontrabasses”, so der Komponist. Zu diesem Zweck wird die tiefste Saite allmählich noch tiefer als gewöhnlich gestimmt und zwar solange, bis sie eine Quinte tiefer ist.
Jon Øivind Ness: Gust für Viola und Kontrabass (2006)
Jon Øivind Ness hinterfragt in seiner Musik gerne Traditionen und überlieferte musikalische Gesten und dies auch gerne mit einem ironischen Blick. Als Grenzgänger zwischen den Genres und Stilen, der sich in den 1980er-Jahren intensiv mit Popmusik beschäftigt hat und seit den 1990er-Jahren als Komponist in der Neuen Musik hervortritt, hat er sich seine eigene, unverstellte Blickweise auf die Dinge bewahrt, die er wiederum fortwährend auf den Prüfstand bringt. Unbelastet von Kategorien und Urteilen war schon der frühe Kontakt mit verschiedenen Musikformen während seiner Kindheit auf der Insel Inderøy im Norden der mittelnorwegischen Region Trøndelag: Jon Øivind Ness probierte gleich eine ganze Reihe unterschiedlicher Instrumente aus. Er spielte die tusserfløyte, ein Flöteninstrument aus der norwegischen Folklore, außerdem Violine und Klarinette. An der Norwegischen Musikakademie in Oslo studierte er zunächst klassische Gitarre, bevor er ein Kompositionsstudium aufnahm.
In Ness‘ Duowerk Gust eröffnet der Kontrabass das Stück mit einer ausgeweiteten absteigenden Bewegung, während die Bratsche hell leuchtende, konturierte melodische Gesten kontrastierend dagegen setzt. Das Diffuse, Vage einerseits und das scharf Konturierte andererseits, dieses Gegensatzpaar zieht sich durch diese Komposition. Angesichts dieses Zusammenspiels ist aufschlussreich, was Jon Øivind Ness vor einigen Jahren über Kompositionstechnik im Allgemeinen zu Protokoll gegeben hat:
“Ich habe letztlich entdeckt, dass wir uns in der Kunstmusik im Gegensatz zu anderen Kunstformen noch immer erlauben, uns auf traditionelle Techniken zu beschränken. Wir akzeptieren Techniken unserer Vorgänger, die auf den Prinzipien der Sonate beruhen und die uns teils noch immer vorschreiben, wie unsere Musik klingen soll. Weil wir glauben, Musik müsse aus Material bestehen, das dem einen oder anderen Prozess unterworfen wird (ob es sich nun um traditionelle Kontrapunkt, Multiplikationen à la Boulez oder eine spektrale Verarbeitung handelt) klingt unsere heutige Musik wie dies oder jenes. Mehrstimmigkeit ist hoch angesehen. Warum muss Musik mehrstimmig sein? Ich sage nicht, dass sie es nicht sein muss, aber warum muss sie es sein? Wie können wir Mehrstimmigkeit neu definieren? (…) Muss musikalisches Material thematischen oder motivischen Prozessen unterworfen werden? Muss man eigentlich eine Fagottmelodie für ein Fagott schreiben, und eine Trompetenmelodie für eine Trompete?”
Leopold Hurt: Aggregat für Violoncello (oder Viola), Basszither in Vierteltonstimmung und Elektronik (2005)
Das Duo-Stück Aggregat von Leopold Hurt ist typisch für den Komponisten, der seine Einflüsse von mittelalterlicher Musik bis Techno und von europäischer Folklore bis zu chinesischen Einflüssen bezieht. In all diesen Aneignungen geht es ihm weder um koloristische Reize noch um Amalgamisierung von Kompositionsprinzipien und Spieltechniken, sondern um einen höchst individuellen Zugriff – der meist ganz anders ist, als man erwarten würde. Leopold Hurts Vorgehensweise mit den verschiedenartigen Musiktraditionen, die er heranzieht, könnte noch am ehesten mit dem eines Bildenden Künstlers verglichen werden, der mit Objets trouvés arbeitet: Das Charakteristische der vorgefundenen Dinge wird letztlich beibehalten, doch sie werden in einen völlig neuen Zusammenhang gebracht.
Als ausgebildeter Interpret an der Zither und gleichzeitig Viola da Gamba-Spieler, der versiert in der Praxis der Alten Musik ist, hat Leopold Hurt früh eine besondere Sichtweise auf musikalische Idiome und klangliche Klischees entwickeln können. Und so gelingt es ihm, der Zither – dem Instrument, dem das Klischee alpenländischer Folklore eingebrannt ist – ganz ungewohnte Klänge zu entlocken, sogar solche, die man eher von einer E-Gitarre erwarten würde. In Hurts Aggregat geht das Instrument vielfältige Verbindungen ein: von der Symbiose, wo beide Instrumente klanglich so eng vereint sind, dass Unterschiede nicht mehr auszumachen sind, bis zu komplexen Dialogen und der Begleitung des Partners. Leopold Hurt hat über sein Stück geschrieben: “Aggregat ist aus einer früheren Komposition für die chinesische Schoßgeige Erhu und die europäische Basszither (in Vierteltonstimmung) herausgewachsen, wobei die Musik den veränderten instrumentalen Mitteln entsprechend stark erweitert, um- und ausgebaut wurde. Reste der chinesischen Musizierpraxis streuen dabei neue Metastasen aus, die in der jetzigen Fassung bis in eine elektronische Parallelwelt reichen. Auch erscheint die ursprüngliche Struktur des Werks nun mitunter brutal aufgesprengt, um, ähnlich wie in der mittelalterlichen Tropus-Technik, Auswucherungen und blockartigen Einschüben Platz zu machen. Um das gewünschte ‘elektrifizierte’ Klangbild zu erzeugen, werden bewusst nur Effektgeräte und Software-Instrumente benutzt, die sonst im Techno und in der Rockmusik Verwendung finden.”
Eckhard Weber