Olga Neuwirth hat sich früh für Underground-Kulturen interessiert, für von den Hauptströmungen Abweichendes, gerne auch für Anarchisches, für Ambivalenzen. Insofern steht ihr eine mythische Figur wie der Satyr Marsyas näher als der oberste Gott der Künste Apollon. Satyrn sind Waldgeister aus der Antike, die oft haarig, mit Spitzohren, Pferdefüßen und kleinen Hörnern am Kopf dargestellt werden. Sie finden sich im Gefolge des Dionysos, des Gott des Rausches und des Weins. Der Satyr Marsyas soll der Sage nach ein Meister auf der antiken Doppelflöte gewesen sein. Dies erregte den Neid Apollons. Er forderte Marsyas zu einem musikalischen Wettstreit auf, gewann durch eine List und häutete als Sieger schließlich den unterlegenen Satyr. Für Olga Neuwith stellt Marsyas die Quintessenz des Künstlers dar.
Marsyas heißt auch eine Skulptur des Künstlers Anish Kapoor, die als Installation 2002 in der Turbinenhalle der Tate Modern in London gezeigt wurde. Kapoors Skulptur war 150 Meter lang und 35 Meter hoch. Sie bestand aus drei riesigen Metallringen, verbunden mit einer tiefroten PVC-Membran. Die beiden Metallringe an den extremen Enden der Skulptur ergaben nach entgegengesetzten Seiten gerichtete Trichter, der dritte Ring umgrenzte eine Öffnung der Skulptur nach unten. Dieses Kunstwerk hat Olga Neuwirth zu ihrem Klavierstück Marsyas (2004) inspiriert, später entstand das Ensemblestück Marsyas II, uraufgeführt Juni 2005 beim Festival »Spannungen« im Kraftwerk Heimbach. Zu Beginn der Kompositon sind die Stimmen der Instrumente so raffiniert gesetzt, dass Violine und Cello sowie die Flöte tatsächlich klanglich zu einer ätherisch wirkenden Doppelflöte verschmelzen. Doch diese antike Idylle währt nur kurz, brüske Umbrüche verändern ständig das Geschehen zu einer vielfach gebrochenen Dramatik. Die klanglichen Perspektivwechsel beziehen sich auf die Skulptur von Anesh Kapour, die aufgrund ihrer Monumentalität von jedem Standpunkt aus völlig anders wirkte.
Eckhard Weber