Die*der Komponist*in Laure Leander aka Martin Hiendl wurde sowohl von der US-amerikanischen als auch von der europäischen Musik- und Kunstszene geprägt. Sie*er sucht in den eigenen Werken nach Strategien, die binären Verkrustungen und die damit verbundenen Hegemonien, die sich mitunter in Jahrhunderten etabliert haben, aufzulösen und freiere Formen und Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln. Das Ganze bestimmt von emphatisch gesetzten Ambiguitäten. Dies betrifft sowohl Fragen nach Gender und Hautfarbe als auch das Verhältnis zwischen Autor*innen, Interpret*innen und Publikum. Im Schaffen von Laure Leander aka Martin Hiendl finden sich deshalb vielfältige Formen, in denen die Grenzen eng gefasster Gattungen und Genres kreativ übersprungen werden. Instrumentales verbindet sich oft mit Elektronik, Konzertantes vermischt sich mit Video und Performance, in die wiederum Elemente der Installation oder des Tanzes einspielen.
Im jüngsten Werk, das bei Ultraschall Berlin vom Zafraan Ensemble uraufgeführt wird, nimmt Laure Leander aka Martin Hiendl einen zentralen Punkt abendländischer Musikproduktion in den Fokus, das Verhältnis von Klängen und ihrem Zeitverlauf. Im Interview für Ultraschall Berlin hat er*sie erläutert: »Das Stück verhandelt unterschiedliche Arten des kammermusikalischen Zusammenspiels. Diese Arbeit ist ein Versuch, westliche Zeitpolitik in einer ganz bestimmten Weise zu dekolonisieren. Zeit, bzw. die Kontrolle über Zeit ist etwas, das unter den Musiker*innen je nach Situation immer wieder neu verhandelt werden muss: ›dis/possession of time‹ (Fred Moten: Black and Blur). Wer besitzt Zeit, wer hat die Kontrolle über die Zeit?«
Deshalb werden im neuen Stück mehr Freiheiten und mehr Autonomie für die einzelnen Ausführenden im Ensemble ermöglicht als dies gewöhnlich der Fall ist. Gemeinsam mit Laure Leander aka Martin Hiendl hat das Zafraan Ensemble die Musik im Laufe eines offenen Arbeitsprozesses im gemeinsamen Austausch entwickelt, vor allem durch improvisatorisches Reagieren auf bestimmte fixierte Vorgaben, Aufgabenstellungen und Fragen. »Es gibt keine synchronisiert ausnotierte Partitur, sondern Materialfragmente, die in Segmenten mit grob angegebenen Dauern (›short‹, ›medium‹, ›long‹) aufgeteilt sind«, hat die*der Komponist*in erklärt, »die Musiker*innen entscheiden selbst, in welchem Tempo sie durch die Segmente fortschreiten. Das musikalische Material und das Verhältnis zu einem gemeinsamen Puls haben unterschiedliche ›Aggregatzustände‹.« Diese können im weitesten Sinne als fest, fließend und frei beschrieben werden. Elektronik spielt im neuen Werk von Laure Leander aka Martin Hiendl eine entscheidende Rolle, wie sie*er erläutert hat: »Die Instrumente sind eigentlich hauptsächlich hochsensible Interfaces für die Elektronik denn Instrumente im eigentlichen Sinn. Ihr akustisches Signal wird viel mehr zur Steuerung der Elektronik verwendet denn als hörbarer Instrumentenklang.«
Eckhard Weber