Mark Andre, gebürtiger Franzose, Nachfahre von Hugenotten und seit langem überzeugter Wahl-Berliner, ist in seinem kompositorischen Schaffen von einer tief erlebten christlichen Spiritualität geprägt. Im Titel seines Orchesterwerks woher … wohin verweisen die beiden Lokaladverbien auf eine Bibelstelle aus dem Johannes-Evangelium. Dort erklärt im »Gespräch mit Nikodemus« Jesus einem Pharisäer die christliche Vorstellung der Wiedergeburt: »Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.« Für Mark Andre gehören diese Verse zu den poetischsten Stellen der Bibel überhaupt, nicht zuletzt wegen der assoziativen Verbindung von konkreter Klangsituation und Spirituellem. Als Komponist interessiert ihn daran besonders der Aspekt des »Entschwindens«, wie Mark Andre es nennt, mit Blick auf den Kreuzestod Jesu und die Auferstehung, aber auch in Bezug auf die biblische Episode über die Jünger auf dem Weg nach Emmaus: Dort erscheint Jesus den Jüngern zunächst und wird später vor ihren Augen plötzlich entrückt.
Solche Schwellen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Gegenwärtigem und Vergangenem, die Untersuchung von Zwischenstadien, Zwischenräumen, Rändern zwischen gesetzten Größen, dies sind zentrale Aspekte in der Musik von Mark Andre. 2015 hielt sich der Komponist im Rahmen einer Künstlerresidenz in Istanbul auf und bewohnte eine Wohnung am Bosporus mit Blick aufs Meer. Gerade im Winter weht dort ein starker Wind, dessen breites Spektrum an Klangfarben an den Holzwänden des Gebäudes, wo Mark Andre wohnte, sehr eindrücklich zu erleben war. In jenen Wochen drängte sich ihm die Bibelstelle über den Wind geradezu auf. Sie brachte ihn auf die Idee, den Aspekt des Verschwindens klanglich zu erforschen. Als Terrain dient Mark Andre das große spätromantisch geprägte Orchester, was ihm in seinen kompositorischen Strategien eines klanglichen Destabilisierens, Ausdünnens, allmählichen Kollabierens und letztlich Verschwindens gerade die enorme Fallhöhe als Möglichkeit bietet, die nötig ist, um solche fein abgestuften Prozesse differenziert darstellen zu können. In insgesamt sieben Anläufen wird der allmähliche Übergang von klanglicher Präsenz zu Absenz thematisiert. Mittels unterschiedlicher Spieltechniken entstehen auf diese Weise faszinierend vielfältige Klanggestalten, die Mark Andre in Vorstudien minutiös typologisiert hat, um sie entsprechend der von ihm beabsichtigten Dramaturgie einzusetzen:
Fragile, teils poröse, teils geräuschhafte, aber auch resonanzreiche und rotierende Gebilde werden mitunter in minutiös gearbeitete kanonische Strukturen gesetzt und anschließend fragmentiert. Extreme Reibungen, trockene und auch klangstarke Pizzicati lösen sich allmählich auf. Diffuses Flimmern gerät in Erstarrung, dynamische Ostinati zerfallen allmählich. Oder sie akkumulieren sich bis zum Zerbersten – denn auch einem gewaltigem Crescendo kann das Verschwinden innewohnen. Woher … wohin wurde im Sommer 2017 in München im Rahmen des musica viva- Wochenendes vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Matthias Pintscher uraufgeführt.
Eckhard Weber