Komponieren im 21. Jahrhundert heißt für Malte Giesen immer auch die Auseinandersetzung mit produktionsästhetischen Fragen. Dazu gehört die Tatsache, dass Musik heute fast ausschließlich über (mehr oder minder adäquate) Lautsprecher bzw. Kopfhörer wahrgenommen wird. Und zwar nicht nur vom Hörer, dem ›User‹ von Streaming-Plattformen oder LPs, sondern auch schon von den Produzenten während des Entstehungsprozesses. Der Raum mit seinen Unwägbarkeiten wird ausgeblendet. »Auch in neueren Werken im Neue-Musik-Bereich«, so Giesen, »die mit Elektronik arbeiten, ist eine ähnliche Tendenz festzustellen: Die eingesetzten Klänge, Sampler, Zuspiele etc. sollen nicht etwa durch die Interferenz mit der Raumakustik in ihrer Klanglichkeit entscheidend mitgeformt werden: Die Raumakustik soll verschwinden.«
Aus diesen Beobachtungen heraus entwickelte Giesen ein ›hyperreales Klavier‹, »mit eigener Charakteristik und unter den Aspekten räumlicher Akustik und vor allem als klare Abgrenzung zur allgegenwärtigen zweidimensionalen Stereo-Beschallung.«
Die Idee des ›hyperrealen Flügels‹ geht über rein ›technische‹ Fragen hinaus und berührt auch philosophisch-ästhetische Fragen. Zunächst einmal hängt sie aber elementar am Instrument.
Der große Konzertflügel ist mehr als nur ein Musikinstrument. Er ist Sinnbild des Repräsentativen, ein Fetisch der bürgerlichen Musikkultur – und er ist eines jener Instrumente, deren Entwicklung, von Verbesserungen im Detail abgesehen, zum Abschluss gekommen ist. Jedenfalls in seiner rein ›akustischen‹ Version ohne technische Aufrüstung.
Der Brückenschlag zwischen Klavier und Keyboard litt indes lange an sowohl technischen wie auch akustischen Unzulänglichkeiten. So nostalgisch reizvoll Player Pianos oder Vorsetzer-Klaviere auch wirken, ihre moderne Variante in Form MIDI-fähiger Klaviere stieß lange auf Skepsis. In jüngerer Zeit allerdings gibt es eine geradezu rasante Entwicklung, die es Malte Giesen jetzt erlaubte, seine Vorstellungen zu realisieren. Zum Einsatz kommt ein so genannter TransAcoustic-Flügel der Firma Yamaha, dessen Eigenschaften Giesen folgendermaßen beschreibt: »Ein normaler Flügel, dessen Tastatur von der Mechanik entkoppelt werden kann und an dessen Seiten optische Sensoren das Spiel in MIDI-Signale umwandelt, wird mit einer Physical-Modelling-Software, die einen möglichst dem Original entsprechenden Klavierklang berechnet, verbunden. Die Modulationsmöglichkeiten dieses virtuellen Klavierklanges sind um einiges vielfältiger als bei einem echten Flügel, so können hierbei live nicht nur Stimmung und Farbe verändert werden, sondern auch physikalisch unmögliche Dinge wie die beim Spielen sich verlängernde Saite, der Anschlagpunkt und die Masse des Hammers, die Saitendicke, die Wölbung und Form des Resonanzbodens oder das Materialverhalten der Dämpfer. Der berechnete Klang wird nun auf zwei Körperschallwandlern, die am Resonanzboden des Flügels befestigt sind, übertragen: So als würde der Klang physikalisch innerhalb des Flügels produziert. Der Resonanzboden, das Mitschwingen der Saiten, das alles produziert nun die akustische Signatur eines echten Flügels. Der Flügel selbst dient hier nicht als Instrument, sondern im Grunde genommen nur als MIDI-Controller und Lautsprecher.«
Die technische Vorrichtung ist ausgefeilt, sie wirft aber, so Malte Giesen, auch ästhetische Fragen auf, »die Frage nach der Differenz zwischen ›Echtem‹ und ›Künstlichem‹, zwischen Original und Surrogat. Was sagt es aus, wenn die Kopie ›besser‹ ist als das Original? Oder wenn eine Kopie zu einem eigenen Original wird. Was ist die Rolle des menschlichen Interpreten hierbei?«
Und so gelangt Giesen mit einer zunächst eher technischen Versuchsanordnung zu den großen Fragen der Gegenwart: »Davon ausgehend zweigen auch ganz allgemein gesellschaftliche Fragestellungen ab, z.B. nach dem Umgang mit immer besser werdender künstlicher Intelligenz und den damit verbundenen Theorien der Singularität.«
Und das ›Hyperreale‹? Da das Ganze auf »eine künstlerisch-technische Erweiterung des traditionellen Flügelklangs abzielt«, auf den menschlichen Interpreten aber nicht verzichtet wird, »erschien mir der Begriff des ›Hyperrealen‹ (bei aller berechtigten philosophischen Kritik am Hyperrealismus) am passendsten: ein Simulacrum als überhöhtes, idealisiertes (…) Bild eines nicht wirklich existierenden Objektes.«
Rainer Pöllmann