Mit Karen Power ist neben Mirela Ivičević eine weitere ehemalige Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD beim Konzert von LUX:NM bei Ultraschall 2022 vertreten. Die irische Komponistin, Klangkünstlerin – und zudem Feldforscherin im Bereich der Klangwelt –war 2015 zu Gast in Berlin. Heute lebt Karen Power in Cork im Süden Irlands. Sie findet einen Großteil des Materials für ihre Werke in der Natur, oft auch unter Wasser. So hat sie für ihr Stück sonic cradle, bei Ultraschall Berlin 2016 von der Geigerin Barbara Lüneburg uraufgeführt, die Geräusche der Unterwasserwelt der Arktis in Aufnahmen eingefangen. Karen Powers Feldaufnahmen haben sie aber auch schon in den Amazonas, in die Wüste Namib im Südwesten Afrikas und in die Outbacks von Australien geführt. In ihren Werken bringt sie diese Feldaufnahmen mit Instrumentenklängen zusammen, wobei eines ihrer Anliegen ist, gerade die Grenzen zwischen dem, was herkömmlich unter Musik verstanden wird und anderen Klängen zu öffnen. Karen Power ist daneben als Improvisatorin hervorgetreten und arbeitet in diesem Bereich auch mit Alltagsklängen. Außerdem engagiert sie sich in pädagogischen Projekten, etwa bei dem von ihr ins Leben gerufenen „Natural Creators Program“, das den Jüngsten die Klänge der Natur nahebringt.
Für ihr Stück bog songs („Sumpfgesänge“) hat sie Aufnahmen aus einem Sumpf in Irland eingesetzt. Heute wissen wir, gerade angesichts der Klimakrise, wie wichtig solche Feuchtbiotope nicht nur für die Artenvielfalt, sondern als Kohlenstoffsenken für den Klimaschutz sind. In einem Werkkommentar gibt Karen Power Informationen über die Feldaufnahmen, die in bog songs zu hören sind:
„Wie der Titel andeutet, präsentieren die Feldaufnahmen, die im Zentrum dieses Werks stehen, die bislang weitgehend ungehörten Klänge der Unterwasserwelt eines Süßwassersumpfes in Irland. Die Lebewesen darin existieren ohne mit uns in Berührung zu treten. Es sind Existenzen, die wir nicht kennen, auf deren Leben wir aber einen entscheidenden Einfluss ausüben. Meine Komposition bog songs bringt lediglich einige kurze Augenblicke dieser verborgenen Welt in den Konzertsaal, wo das Ensemble LUX:NM bei der gemeinsamen Kommunikation versuchen wird, ein neues Klanguniversum zu erschaffen. Wie in vielen Werken von Karen Power bietet sich sowohl den Ausführenden als auch dem Publikum die Möglichkeit, der gesamten Klangwelt einfach als bislang nie gehörter Musik zu lauschen. Karen Power lädt alle ein, unsere Ohren zu öffnen und uns auf diese Weise mit jenem Ort zu verbinden. Dies kann uns auch miteinander in Verbindung treten lassen und kann uns veranlassen, über unsere eigene Rolle auf der Erde und deren Folgen für diesen Unterwassermikrokosmos zu überdenken.“
Zur formalen Anlage und Dramaturgie ihres Stücks liefert Karen Power ebenfalls Erläuterungen in Ihrem Werkkommentar: „bog songs beginnt in einem Stadium, wo Mensch und Natur sich als vorsichtige Fremde begegnen, einander völlig unbekannt. Doch im weiteren Verlauf des Stücks werden beide eng verschlungen und eine neuartige Klanglandschaft zeichnet sich ab. Darin werden markant musikalische Elemente zu Tage fördert, die ähnlich in beiden Lebenssystemen vorkommen. Der hypnotische und geradezu elektrisierende Ruf aus der Unterwassernatur bringt schließlich alle Ensemblemitglieder dazu, neue Herangehensweisen für ihre eigenen Instrumente zu entwickeln. Auf diese Weise führen sie uns alle in neue klingende Zusammenhänge, die einzigartig, frisch und auf eine bestimmte Weise auch vertraut sind.“
Die von Karen Power erstellte Partitur von bog songs besteht aus grafischer Notation. Als Ausgangspunkte und Navigationspunkte zwischendurch werden vereinzelt Tonhöhen angegeben. Ansonsten sind die melodischen Verläufe der Instrumentenparts als Verlaufskurven dargestellt, mitunter auch als Elipsen, die eine Vorstellung der Melodiebewegung andeuten. Auch einige Angaben für Glissandi und Cluster, Repetitionen und Variationen gibt es. Die grafische Notation besteht aus sanft ansteigenden und abfallenden Linien, aber auch aus Zickzackkurven, aus durchgehenden und verschiedenartig unterbrochenen Lnien. Die Feingestaltung bei der Interpretation dieser Notation ist der Kreativität und dem Einfühlungsvermögen der Ensemblemitglieder überlassen, die somit in ihrer Funktion weit über Interpretierende eines Notentexts hinausgehen. Dies bedeutet auch, das praktisch jede Aufführung von bog songs eine andere Erscheinungsform hat.
Zur Ausführung bemerkt Karen Power in ihrem Werkkommentar: „Das Stück bog songs erfordert sowohl von den Musiker:innen als auch von ihrem Publikum Geduld, Neugierde und Freude am Experiment. Das Stück wurde konstruiert bzw. komponiert, um den Aufführenden die Möglichkeit zu geben, ihren kreativen Beitrag einzubringen. Aus diesem Grund scheint es zunächst, als wären die Möglichkeiten unendlich, was überwältigend sein kann. Das zugespielte Material, das benutzt wird, ist allerdings extrem begrenzt. Wenn man einige Zeit zuhört, wird man herausfinden, dass es sogar sehr wenige Klänge und Techniken sind, die wiederholt und endlos variiert werden können. Wie an diesen Klängen aus der Unterwasserwelt gehört werden kann, bedarf es nur einer sehr kleinen Veränderung, um große und nachhaltige bzw. dauerhafte Wirkungen zu erzielen. Gegen Ende des Stücks wendet sich jede:r Musiker:in einer erweiterten Klangskulptur des eigenen Instruments zu. An diesen Klangskulpturen sind einige kleine Motoren angebracht. Diese Motoren, die der Künstler Mick O’ Shea gebaut hat, sind absichtlich sehr einfache Apparate, wirklich low-fi, so dass sie sich einen gewissen Grad an Unvorsehrbarkeit und ihren schelmischen Charakter bewahren! Die Interpret:innen sollten lernen, sich mit Lust auf dieses Chaos einzulassen und es während des Stücks in ihr eigenes Spiel zu integrieren.“
Eckhard Weber