Die finnische Komponistin Kaija Saariaho gehört zu den prominenten Jubilarinnen des Jahres 1922: Im Oktober wird sie 70 Jahre alt. Bis heute hat sie in ihrer Karriere so produktiv wie pointiert individuelle Positionen in nahezu allen Musikattungen beigesteuert: Solostücke, Kammermusik, Orchester- und Vokalwerke, Musiktheater, oft auch mit Elektronik verbunden. Lange hat sie allerdings mit einer Komposition für die Besetzung Klaviertrio gewartet: „Ich habe mehrere Stücke für unterschiedliche Triobesetzungen komponiert, jedoch hatte ich lange Zeit Bedenken, ein Stück für die tradtionelle Klaviertriobesetzung zu schreiben, vielleicht wegen der langen und bedeutenden Tradition“, hat sie ihr Zögern einmal erläutert.
Erst 2014 wagte sie sich an ihr Klaviertrio Light and Matter. Das Stück ist in New York entstanden, wo die seit langem in Paris wohnende Komponistin während der letzten Jahre immer wieder für einige Zeit lebt. Sie habe an diesem Klaviertrio gearbeitet, so Kaija Saariaho, „während ich von meinem Fenster aus das wechselnde Licht und die Farben des Morningside Parks beobachtete“. Die Lichtwirkungen in diesem Park in Manhattan, der sich nordwestlich des Central Parks zwischen Upper West Side und Harlem befindet, haben die Musik von Light and Matter inspiriert.
Schon im zeitlichen Umfeld der Uraufführung ihrer ersten Oper L’amour de loin 2000 bei den Salzburger Festspielen hat Kaija Saariaho die Bedeutung des Visuellen für ihr Musikschaffen hervorgehoben: „In meiner ganz persönlich entwickelten Art, die Dinge wahrzunehmen, gibt es sicherlich eine starke synästhetische Komponente, die die visuelle Seite sehr wichtig werden lässt. Ich glaube, dies empfinden auch die Hörer meiner Musik.“ Als Künstlerin, die in Finnland mit den langen Nächten des Winters und den weißen Nächten des Sommers aufgewachsen ist, habe sie eine besondere Sensibilität für Lichtphänomene, erklärte Kaija Saariaho im Entstehungsjahr von Light and Matter gegenüber dem US-amerikanischen Magazin Music & Literature. Angesprochen auf Finnland, sagte sie damals: „Natur ist eine Sache, aber was wichtiger ist, ist Licht. Die Veränderungen des Sonnlichts im Jahresverlauf sind so drastisch, dass sie jeden beeinflussen.“
Für das Klaviertrio Light and Matter interessierten Kaija Saariaho vor allem die Lichtwirkungen auf den Bäumen des erwähnten Morningside Parks in Manhattan, wie sie in einem Werkkommentar betont hat: „Die ständige Veränderung des Lichts auf den glitzernden Blättern und den unbeweglichen Stämmen der mächtigen Bäume wurden zur Inspiration für das musikalische Material in diesem Stück.“ Die verschiedenen Erscheinungsformen des Lichts auf wechselndem Hintergrund werden in Light and Matter – der Titel wäre im Deutschen am treffendsten mit „Licht und Materie“ zu übersetzen – zu unterschiedlichen Materialzuständen in der Musik.
Light and Matter beginnt mit flüchtigen Gestalten im Klavier und Cello, später beteiligt sich auch die Violine am Geschehen. Trotz der anfangs lockeren, geradezu luftigen Texturen in ihren vielfachen Abstufungen fällt nichts auseinander, es ergibt sich tatsächlich eine Kohärenz des flirrenden Klanggewebes. Allmählich verfestigen sich die Strukturen zu ausgedehnteren Phrasen. Etwa in der Mitte des gut viertelstündigen Stücks tritt zum ersten Mal ein von Kaija Saariaho als „Choral“ bezeichnetes Gebilde auf: eine langsame, fest umrissene Melodiebewegung im Cello. Auch wenn solche größeren Melodielinien eines „Chorals“ in der zweiten Hälfte des Stücks häufiger auftreten, handelt es sich nicht um eine streng lineare Entwicklung vom locker Gefügten zu festen Gebilden. Denn es gibt auch verschattete und fragile, transparente Momente, wo sich fest gefügte, ausgeweitete Strukturen finden, und klangstarke, verdichtete sowie auch expressive Passagen in einem Umfeld, wo die Strukturen vorwiegend lose miteinander verbunden sind. Auf diese Weise durchdringen sich die verschiedenen Materialzustände, Texturen, Spielweisen, statisch und rhythmisch bewegte Passagen in dieser Musik gegenseitig. Wie dies alles vielfach wechselnd in verschiedenen Dichtergraden, Bewegungsintensitäten und harmonischen Farben miteinander in Beziehung gesetzt wird und wie die Einsätze der drei Instrumente des Klaviertrios im ständigen Wandel sowohl im Klang verschmelzend als auch solistisch hervortetend kombiniert werden, das ist die große Kunst von Kaija Saariaho.
Eckhard Weber