Katharina Bäuml und José María Sánchez-Verdú mussten früher oder später für ein Projekt zusammenkommen. Die Schalmei-Virtuosin ist interessiert daran, auch Zeitgenössisches auf dem Renaissance-Instrument zu spielen und bittet deshalb Komponisten um neue Werke. José María Sánchez-Verdú wiederum hat sich in den letzten Jahren in seinem Komponieren intensiv mit Alter Musik und vor allem auch mit historischen Instrumenten beschäftigt: So sind in enger Zusammenarbeit mit dem Ensemble Tasto solo um den Alte-Musik-Spezialisten Guillermo Pérez etwa Werke für Portativ, gotische Harfe, das mittelalterliche Streichinstrument Viola de arco und Clavicymbalum, einen Vorgänger des Cembalos, entstanden. Die Kompositionen für diese Instrumente sind Teil einer noch im Entstehen begriffenen Werkgruppe von José María Sánchez Verdú mit dem Arbeitstitel El jardín de las delicias („Der Garten der Lüste“) in Anlehnung an das gleichnamige Triptychon von Hieronymus Bosch, das im Prado in Madrid hängt. 2016 wurden im Rahmenprogramm zur großen Hieronymus-Bosch-Ausstellung im Prado einige Stück aus dieser Werkgruppe aufgeführt. In der Besetzung hat sich José María Sánchez Verdú an den Instrumenten orientiert, die im Gemälde Der Garten der Lüste von Bosch abgebildet sind. Was bislang noch fehlte, war ein Werk für eine Schalmei. Diese ist ebenfalls in Boschs berühmten Gemälde enthalten, im rechten Teil des Triptychons, im Bildteil Hölle, schräg auf dem Kopf stehend, rechts neben der zentral positionierten Leier.
Diese Lücke ist nun mit der Uraufführung von Chanson rouge geschlossen. Doch was reizt den Komponisten an den Instrumenten ferner Epochen? „Die Stimmsysteme dieser alten Instrumente haben eine andere Aura, sie sind viel intimer, die Materialität des Holzes ist zu spüren“, gibt José María Sánchez Verdú im Interview für Ultraschall Berlin Auskunft. „Gleichzeitig sind diese Instrumente nuancenreicher im Klang, nicht so homogen wie die modernen Instrumente. Es gibt viel mehr klangliche Zwischenräume und Schattierungen. Und diese Charakteristika eröffnen uns Komponisten heute ganz neue (Klang-)Räume und neue Perspektiven.“
Der Titel Chanson rouge verweist auf das Chanson in der Tradition von Renaissance-Komponisten wie etwa Josquin Desprez, Johannes Ockeghem und von Sánchez Verdús Lieblingskomponisten Pierre de la Rue. Konkret bezieht sich die Komposition jedoch auf ein Werk des weniger bekannten Johannes Urrede, geboren 1430 als Johannes de Wreede in Brügge. Er zählte zu den vielen flämischen Musikern, die in Diensten der Katholischen Könige Fernando von Aragón und Isabella von Kastilien standen. Von Urrede stammt das in der Epoche berühmte höfische Lied Nunca fue pena mayor („Nie war größerer Schmerz“), entstanden um 1470. Es befindet sich in den maßgeblichen Liedsammlungen aus der Zeit, im Cancionero musical del Palacio und im Cancionero musical de la Colombina. Pierre de la Rue hat es für seine Messe Nunca fué pena mayor herangezogen.
Für sein Solostück für Schalmei hat José María Sánchez Verdú das Stück von Urrede als Fundament genommen und hat auf diese Anlage ein modernes Gebäude gebaut, wie er es beschreibt. Die Schalmei spielt für das Instrument unübliche Klänge, der Komponist bezeichnet Chanson rouge als ein „Gegenspiel“ widersprüchliche Elemente in der Auseinandersetzung von Material und Energie. Vor allem in bewusst nicht miteinander synchronisierten Aktionen zwischen Atemtechnik und Fingerfertigkeit kommt es zu ungewohnten Ergebnissen. Das „rouge“ im Titel hat eine synästhetische Bedeutung. José María Sánchez Verdú verbindet die Farbe Rot mit dem Ton G.
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