Als das eine Instrument aus der Mode kam, war das andere noch nicht einmal erfunden: Die in Europa im Mittelalter nach asiatischen Vorbildern aufgekomme Schalmei, die von der Barockoboe abgelöst wurde, und das Anfang des 19. Jahrhunderts erfundene Akkordeon sind ein Duo ohnegleichen in der Musikgeschichte. Da die „Oma der modernen Oboe“ – wie Katharina Bäuml vom Duo mixtura gerne liebevoll die Schalmei als typisches Instrument der Alten Musik bezeichnet – und das Akkordeon kein gemeinsames historisches Repertoire haben, hat sich das Duo mixtura zur Aufgabe gemacht, ein neues Repertoire für die beiden so unterschiedlichen Instrumente zu begründen. Seit mehreren Jahren spielen Katharina Bäuml und Margit Kern vom Duo mixtura nicht nur eigene Bearbeitungen geeigneter Stücke aus dem Bereich der Alten Musik, sie haben auch eine Reihe neuer Werke inspiriert. Die Ergebnisse sind verblüffend. Das Zusammenspiel funktioniert überraschend gut. Neue Klangräume haben sich seitdem für die beiden Instrumente eröffnet. Und gleichzeitig völlig neue Perspektiven für Komponist:innen unserer Tage.
Auch Johannes Schöllhorn, der dieses Jahr im Juni seinen 60. Geburtstag feiern wird, schlägt bei der Auseinandersetzung mit Schalmei und Akkordeon neue Wege ein. Er hat als Auftragswerk des Rundunks Berlin-Brandenburg das rund fünfzigminütige Stück „tra un fiore colto e l’altro donato“ für Schalmei, Akkordeon und elektronisches Setup mit acht Lautsprechern (2020/21) komponiert. Das Duo mixtura bringt das Werk gemeinsam mit Damian Marhulets an der Elektronik bei Ultraschall Berlin 2022 zur Uraufführung. „dieses stück stellt für mich einen versuch dar, mich auf verschiedene weisen in neues terrain zu begeben, oder, anders gesagt, etwa neues für mich zu wagen“, hat Johannes Schöllhorn im Mail-Interview für Ultraschall Berlin zu „tra un fiore colto e l’altro donato“ erklärt, „es ist mein erstes stück mit live-elektronik und es ist gleichzeitig bei weitem mein längstes stück.“
Der Komponist bezeichnet sein neues Werk ausdrücklich als „Trio aus drei Soli“ und führt dazu in den Vorbemerkungen der Partitur aus: „Die beiden Soli von Schalmei und Akkordeon werden durch ein Solo für ein elektronisches Setup verbunden.“ Die Elektronik ist im Stück die verbindende Klammer zwischen den beiden akustischen Instrumenten, die hier nicht als Duo simultan spielen, sondern hintereinander. Doch Johannes Schöllhorn betont in den Aufführungshinweisen der Partitur: „Obwohl Akkordeon und Schalmei im Stück nie zusammenspielen, ergänzen sich ihre Soli und sind sehr eng aufeinander bezogen.“
Die Großform ist klar aufgeteilt, in der ersten Hälfte hat das Akkordeon seinen Einsatz, nach etwa zehn Minuten tritt die Elektronik-Schicht hinzu. In der Mitte, wenn das Akkordeon sein Solo beendet hat, bleibt das elektronische Solo eine Zeit lang frei stehen und begleitet schließlich den Einsatz der Schalmei, die dann am Ende alleine erklingt. „wichtig sind dabei ort und raum“, so Johannes Schöllhorn, „anfangs erklingt alles vom ort des akkordeons her, während zum ende der elektronik der gesamte raum erklingt, auf den wieder der punktartige ort der schalmei antwortet.“ Diese zunehmende Verräumlichung der Elektronik innerhalb des Stücks ist als Raumkonzept mit den Klängen aus den insgesamt acht, das Publikum einrahmende Lautsprechern sinnlich erfahrbar. Der Klang verbreitet sich von den beiden auf dem Podium angebrachten Lautsprechern allmählich über die Lautsprecher im gesamten Raum.
Während die Elektronik im Zusammenspiel mit dem Akkordeon lineare und flächige Texturen hat, transformieren sich diese auf dem Weg zum Duo mit der Schalmei allmählich zu punktartigen Texturen. Diese Veränderung der Texturen in der Elektronik vollzieht sich als Kreuzblende: während die eine Art der Texturen abgeblendet wird, also schwächer wird, wird die andere Textur gleichzeitig langsam aufgeblendet, wächst somit an. In der Partitur heißt es für die Ausführung der Elektronik zudem: »Beim Übergang von den gehaltenen zu den punktuellen Klängen sind auch Mischungen der beiden Klangarten möglich, also zum Beispiel schnelle Repetititonen kurzer Klänge. / Die gehaltenen Klänge sollten eher Tonhöhen sein, die punktuellen Klänge können die ganze Bandbreite von Geräusch zu Tonhöhe benützen.“
Die Soli von Akkordeon und Schalmei sind jeweils in drei Abschnitte unterteilt, die Johannes Schöllhorn mit Bezug auf den italienischen Titel des Stücks mit italienischen Bezeichnungen klassifiziert hat:
- Akkordeon: melodie („Melodien“), accordi („Akkorde), fiori („Blumen“)
- Schalmei: glissandi, fiori, melodie
Das Material in diesen unterschiedlichen Abschnitten hat jeweils spezifische Eigenschaften, die in diesen Begriffen bereits angedeutet sind: Die Beschaffenheit des Materials in den Abschnitten des Akkordeons melodie und accordi dürften sich von selbst verstehen, wie auch die Art des Spiels in den Abschnitten glissandi und melodie der Schalmei. Bei den glissandi sind feine mikrotonale Nuancen gefragt, wie die Spielanweisung in der Partitur fordert: „Die glissandi sollten sich maximal einen Viertelton abwärts bewegen.“
Wie in der Elektronik ist auch innerhalb der Soloeinsätze von Akkordeon und Schalmei jeweils der Verlauf von Linienstrukturen zu kleinteiligen Strukturen zu bemerken: Die jeweiligen ersten Abschnitte der Soli, die melodie im Akkordeon und die glissandiin der Schalmei, sollen tendenziell als Linien mit kurzen Zäsuren gespielt werden. Dagegen sind die anschließenden kurzen Akkordprogressionen im Abschnitt accordi im Akkordeon von Pausen durchzogen. Dies gilt auch für den fiori-Abschnitt im Akkordeon mit seinen sehr kurzen Gestalten, knappen Gesten, die mitunter bloß einen Ton umfassen. Sie erscheinen als Abfolge klanglicher Einzelereignsse, ebenfalls jeweils durch kurze Pausen voneinander getrennt. In der Schalmei besteht der zweite Abschnitt fiori aus Phrasen mit sprunghaften Tonverläufen. Der abschließende dritte Abschnitt melodie in der Schalmei weist kurze Gesten auf, einzelne „Melodiebögen“, wie sie Johannes Schöllhorn nennt. Auch diese sind jeweils beim Vortrag durch Pausen voneinander getrennt.
Der Komponist hebt in seinen Anmerkungen in der Partitur hervor, dass die Elektronik jeweils in einem anderen Verhältnis zum Akkordeon und der Schalmei steht: „Zu Beginn bilden Akkordeon und Elektronik eine klangliche Einheit, es soll gewissermaßen ein großes Akkordeon bei Akkordeon accordi, entstehen.“ Im dritten Abschnitt fiori spalten sich Elektronik und Akkordeon dann voneinander ab. Die Schalmei geht im Gegensatz zum Akkordeon eine andere Interaktion mit der Elektronik ein. Johannes Schöllhorn beschreibt dies mit einem Vergleich aus der Kunstgeschichte: „die schalmei ‚schneidet‘ mit ihren glissandi in den klang der elektronik. vielleicht kann man diese glissandi mit den feinen schnitten vergleichen, die lucio fontana in seine leinwände gemacht hat und die ein unbeschreibliches nichts bzw. dahinter eröffnen.“
Dieses „nichts bzw. dahinter“ verweist auf einen Aspekt, der in den tendenziell von Pausen durchzogenen, kleingliedrigen Strukturen in Johannes Schöllhorns „Tra un fiore colto e l’altro donato” ästhetisch eine wichtige Rolle spielt. Vor allem in den fiori-Abschnitten wird dies wirksam. Der Begriff fiori wurde bewusst mit Bezug zu einem Gedicht des italienischen Schriftstellers Giuseppe Ungaretti (1888–1970) gewählt, woraus auch der Titel der Komposition entlehnt ist: In Eterno aus der Anfang des Ersten Weltkriegs entstanden Gedichtgruppe Ultime, die erstmals 1919 in der Gedichtsammlung Allegria di naufragiveröffentlicht wurde, heißt es: „Tra un fiore colto e l’altro donato / l’inesprimibile nulla“. Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann hat dieses Kurzgedicht unter dem Titel Ewig übersetzt mit den Worten „Zwischen einer gepflückten Blume und der geschenkten / das unausdrückbare Nichts“.
Für ihn sei in seiner Komposition der Begriff fiori „wie bei ungaretti auch, eine metapher, ein helfendes Bild“, betont Johannes Schöllhorn. Dazu führt er in einem Werkkommentar aus: „Ungarettis dezente Zeilen schenken uns einen Augenblick, der mir genau den Raum, in dem sich meine Musik zu entfalten versucht, zu berühren scheint. / In Japan nennt man dieses ‚dazwischen‘, das Ungaretti mit dem schönen Wort tra eröffnet, ma oder skima, einen Zwischen- oder Möglichkeitsraum oder einen Spalt, der, wenn wir uns ihm hingeben, ungeheure Ausmaße annehmen kann. Fern von jeglichem Pathos der Leere (oder einer Leere des Pathos) ist hier Raum für eine stille Musik.“
Wir wissen spätestens seit Franz Schubert: Pausen in der Musik sind natürlich nie bloßes Aussetzen von Klängen. Pausen gehören zum Zusammenhang des Komponierten, sie wirken auf das Klingende ein, können es – um eine Vorstellung aus dem Theater zu gebrauchen – unterschiedlich in Szene setzen. Johannes Schöllhorn fügt zudem einen aufschlussreichen Aspekt hinzu: „man vergisst auch gerne bei allen konzerten, dass das publikum ebenfalls mitkomponiert. sprechende pausen werden vom publikum gefüllt, aber das macht jeder hörer auf seine weise. auch das publikum ist hörender komponist. wenn man das bedenkt, dann kann man damit als komponist spielen, kann diese offenheit mitkomponieren.“
Auch die Großform des Stücks ist von solchen Überlegungen geprägt. Zu Beginn treten die Klänge nach und nach aus der Stille heraus. Margit Kern, die mit dem Akkordeon das erste Solo spielt, hat darüber im Interview für Ultraschall Berlin gesagt: „Für mich beginnt die Musik am absoluten Hörhorizont.“ Die Dynamik entwickelt sich im ersten Abschnitt des Akkordeons, melodie, ansteigend vom Pianopianissimo bis zum Piano-Bereich. In der Feingestaltung dieser Entwicklung ist die Akkordeonistin frei, wie in vielen anderen Abschnitten auch. Diese teilweise Übertragung der Autorschaft vom Komponisten auf die Interpretinnen wird noch deutlicher in den fiori-Abschnitten beider Instrumente sowie in den melodie der Schalmei: Die einzelnen fiori-Gesten beispielweise sind als Module in der Partitur notiert. Zwar sollte die Reihenfolge beibehalten werden, doch in der Auswahl sind die Interpretinnen frei. Ob sie also alle fiori spielen oder nur einige, liegt in der Verantwortung der Interpretinnen. Das Stück „tra un fiore colto e l’altro donato“ verbindet somit genau ausformulierte Strukturen mit Momenten der freien Gestaltung.
„Ich fühle mich mit diesem Maximum an Freiheit einer komponierten Fom sehr wohl“, sagt Margit Kern im Interview für Ultraschall Berlin, „sie bietet eine starke Möglichkeit der Eigengestaltung. Für mich liegt der Schlüssel dazu tatsächlich in der Empfindung der Zeit. Wenn der Moment nur von absolut einer Sache, einer Phrase, einem Aphorismus erfüllt ist, ist es für das, was geschieht ohne Bedeutung, das wievielte Glied in einer Reihe es ist. Ich verlasse mich ganz auf die Loslösung von der Linearität.“ Eine ähnliche Freiheit bei der Interpretation gilt auch für die Elektronik. Dazu heißt es in der Partitur: „Die Wahl des Setups steht der Interpretin/dem Interpreten frei.“ Dies hat, wie Johannes Schöllhorn erläutert, auch praktische Gründe, die pragmatischen Weitblick zeigen: „mein ziel war es auch, anders als bei den vielen stücken mit genauen patches etc. angesichts einer rasanten soft- und hardware-entwicklung nicht eine partitur zu schreiben, die bereits bei der uraufführung veraltet ist. die elektronik ist wirklich instrument und mit händen gespielt, kein rein technischer automatismus. letzteres wäre mit meiner partitur nicht möglich.“
„tra un fiore colto e l’altro donato“ ist ein Stück, das ein so weites wie differenziertes musikalisches Spanungsfeld eröffnet zwischen akustischen Instrumenten und Elektronik, linearen und punktuellen Gestalten, glatten und zerklüfteten Texturen, zwischen Klang und Stille, zwischen genau festgelegten Strukturen und freier Gestaltung. Dies alles ergibt einen weiten Raum für ungeahnte Klangexpeditionen, genau passend als Herausforderung für die außergewöhnliche Kombination der Instrumente des Duos mixtura. Im Interview für Ultraschall Berlin hat Johannes Schöllhorn auch eine Einsicht des französischen Dichters René Char (1907–1988) zitiert: „Wie können wir leben ohne Unbekanntes vor uns zu haben.“
Eckhard Weber