»Sinaïa 1916 ist das ferne Echo eines Chorals und eines Carillons von Georges Enescu«, hat Johannes Schöllhorn in einem Kommentar zu seinem Werk erklärt, das er für das Trio Accanto komponierte und dessen erster Teil im Juni 2015 in Luxemburg uraufgeführt wurde. Bei Ultraschall Berlin wird erstmals das Gesamtwerk in zwei Teilen vorgestellt. Tatsächlich wurde Sinaïa 1916 von den Sätzen Choral und Carillon nocturne aus der Klaviersuite Nr. 3 op. 18 Pièces impromptues von George Enescu inspiriert, die dieser 1916 fertigstellte. Gerade das Glockenklänge evozierende Carillon nocturne betrachtet die Musikwissenschaft als ein Vorläufer spektraler Musik, »was bei Glocken auch nahe liegt«, wie Johannes Schöllhorn im Interview für Ultraschall Berlin bemerkt hat. »Mich fasziniert die besondere Harmonik in beiden Stücken, aber auch die außergewöhnliche Metrik/Rhythmik, die sehr osteuropäisch gefärbt ist«, so Johannes Schöllhorn. Die Metrik erinnert ihn zudem an das, was von der Musik des antiken Griechenland bekannt ist. »In beiden Stücken wird Sinaïa, der rumänische Ort mit einem bekannten Kloster, an dem Enescu die Stücke 1916 schrieb, hörbar. Die Metrik im Carillon zeigt uns den Klang und den Rhythmus der Glocken, den die Mönche dort sicher mit ihren Seilzügen erzeugten. Wenn man in Osteuropa oder Griechenland ist, dann kann man das heute immer noch sehr schön erleben«, hat Johannes Schöllhorn im Interview ausgeführt. Der erste Teil seines eigenen Werks, Sinaïa 1916 für Trio, geht von Enescus Choral aus und ist dunkel gefärbt, vorwiegend in tiefen Registern gesetzt. Hier wird das Bariton-Saxophon gespielt, das sich aufgrund seiner Vielseitigkeit klanglich sowohl mit dem Klavier als auch mit dem Schlagzeug verschmelzen kann – realisiert in gravitätischen Melodiebewegungen. Der zweite Teil setzt sich mit Enescus Carillon nocturne auseinander, hier kommt das Alt-Saxophon zum Einsatz. Zur Entfaltung seines reichhaltigen Obertonspektrums und dessen glockenartiger Vermischung wird das Klavier durchgehend mit Pedal gespielt. Im Schlagzeug sind vor allem obertonreiche Metallophone im Einsatz. Erstaunlicherweise strahlen durch diese spezifische Behandlung der Mittel die modernen Instrumente Klavier, Saxophon und Schlagzeug tatsächlich eine mystische Archaik aus.
Genau diese Archaik fasziniert Johannes Schöllhorn als überzeitliche Kraft, ausgehend von Choral und Glockenklang und somit einer viele Jahrhunderte umspannenden Traditionslinie. Er hat darauf hingewiesen, dass das erwähnte Kloster von Sinaïa in den Südkarpaten, 1695 gegründet, sich wiederum im Namen auf einen noch älteren Vorläufer bezieht: auf das griechisch-orthodoxe Katharinenkloster, das älteste noch bewohnte christliche Kloster aus dem 6. Jahrhundert auf der Halbinsel Sinai. Am Ort dieses Klosters soll laut Altem Testament Gott sich Mose durch einen brennenden Dornbusch offenbart haben. All dies klingt letztlich in Chorälen und Glocken mit. Johannes Schöllhorn: »Der Choral ist eine der ältesten musikalischen Äußerungen der europäischen Musik. Seine Wandlungsfähigkeit hat ihn bis heute erhalten und losgelöst von allzu bestimmten religiösen Inhalten ist er durch seinen Tonfall immer ein ›Gefäß‹ geblieben, in das wir unsere Ideen legen können und das uns zu berühren vermag. Der Choral ist auch ein Hilfsmittel, durch das man – wie mit einem Fern- oder besser Hörrohr – sich in der Vergangenheit verlieren kann. Die Resonanz der Vergangenheit klingt in den Glocken und in der Gegenwart fort und sie erreicht uns auch als Echo aus der Zukunft. Denn Choräle und Glocken werden auch nach uns noch zu hören sein.«
Eckhard Weber