Johannes Boris Borowski lässt sich für die Titel seiner Kompositionen gerne vom Klang eines Wortes leiten. So war es auch bei dem kurzen Titel Dex für sein neues Ensemblestück. Dex bezieht sich auf Dexamethason, ein künstliches Hormon, das als Medikament entzündungshemmend und stark aufputschend wird. Es wird von Sportlern als Dopingmittel eingesetzt. Studien zufolge soll es auch der Höhenkrankheit vorbeugen. Als erfahrener Bergsteiger interessiert sich Johannes Boris Borowski selbstverständlich auch für gesundheitliche Aspekte alpiner Sportarten und stieß durch eine Dokumentation auf die Wirkungsweise von Dexamethason. Dies brachte ihn auf den Gedanken, eine analoge Versuchsanordnung in der Musik herzustellen: Was macht ein plötzlicher Energieschub mit einer musikalischen Struktur? Wie verhalten sich Statik und Bewegung zueinander?
In Dex wird zunächst ein Zustand der Statik über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten. Ein in gewissen Abständen wiederkehrendes Elemente und diffuse, zwischendurch auftretende Klangereignisse bestätigen diesen Zustand. Durch einen plötzlichen Impuls kommt es zu einem ungeheuren Energieschub, der zur dynamischen zweiten Hälfte des Stücks führt. Doch die Wirkung des Impulses hält wie nach der Einnahme einer Substanz nur eine Weile an. Das zunächst energiegeladene System fällt allmählich in den vorherigen Zustand zurück. Hier kommen erneut Fragen nach Identität und Persönlichkeit, die Johannes Boris Borowski schon im Klaviertrio stellte, zum Tragen: Was passiert mit den Strukturelementen, die zu Beginn eingeführt wurden, nachdem die Wirkung des Energieschubes nachlässt? Wenn das, was durch die Zugabe aufgebaut wurde, wieder in sich zusammenfällt? Im Gegensatz zu den vielfältigen Gesten im Klavier wird hier mit der gesamten Besetzung des Zafraan Ensemble die Frage der Identität strukturell und dramaturgisch in äußerster Konzentration untersucht.
Eckhard Weber