Jörg Widmann: Fünf Bruchstücke (1997)
“Nach mehreren Stücken, in denen es um Fluss und Bewältigung einer Großform ging, faszinierte mich 1997 die Idee von Bruch-Stücken: Reduktion, Verknappung, Konzentration. Die mir liebgewordenen Instrumente Klarinette und Klavier mussten mir dazu wieder fremd werden; es ist eine andere Vertrautheit geworden.”, hat der Komponist Jörg Widmann über seine Komposition Fünf Bruchstücke gesagt. Vor allem mit Blick auf die Klarinette ist diese von Widmann angesprochene Entfremdung von Interesse. Denn er ist nicht nur preisgekrönter Komponist und “Lichtgestalt der jungen Szene”, wie die Süddeutsche Zeitung einmal euphorisch schrieb, sondern auch einer der markantesten Klarinettisten unserer Zeit. Was für ein gewagtes Experiment also, den Klarinettisten plötzlich auf Distanz zu halten, und überdies die bislang errungene, eigene kompositorische Handschrift aus Neugier und Interesse an neuen Wegen auf den Prüfstand zu stellen. Als Jörg Widmann seine Komposition in Angriff nahm, hatte er gerade sein Kompositionsstudium bei Wilfried Hiller und Hans Werner Henze hinter sich und begann, seine Studien bei Heiner Goebbels und Wolfgang Rihm fortzusetzen.
Im Alter von sieben Jahren habe er schon gerne auf dem Instrument improvisiert zwischen dem Üben, sagte Jörg Widmann einmal in einem Interview. Am folgenden Tag habe er sich jedoch geärgert, dass er sich an die Details seiner Improvisationen nicht erinnern konnte. Aus dieser Motivation sei er Komponist geworden. Man kann sich vorstellen, wie stark sein Komponieren von der eigenen Spielpraxis, von der Lust am Spiel beeinflusst ist. Indem bei den Fünf Bruchstücken nicht die Großform, also eine mögliche Entwicklung, ein tektonischer Zusammenhalt oder eine wie auch immer geartete Kohärenz im Vordergrund stehen, können konsequent einzelne Schlaglichter auf bestimmte Facetten des Klanges geworfen werden. Und dies nicht nur bei Jörg Widmanns ureigenem Instrument, der Klarinette, sondern auch beim Klavier. Insofern erfordert auch der Klavierpart die innovative Ausdruckspalette des modernen Spiels, das extreme Lagen genauso beinhaltet wie das Spiel auf den Saiten im Korpus des Instruments. Jörg Widmanns Bruchstücke stellen somit keine Solokomposition für Klarinette mit Klavierbegleitung dar, sondern erweisen sich tatsächlich als intensiver Dialog zwischen beiden Instrumenten, die mit Splittern bekannter Gesten sowie mit überraschenden Farben und Klangwirkungen kreativ spielen. Somit ergeben die Bruchstücke ein wahres Füllhorn an Klangfarben, geradezu eine Studie des Machbaren auf beiden Instrumenten.
Elliott Carter: Clarinet Concerto (1996)
Erinnern viele Werke von Elliott Carter formal an einen unaufhaltsamen Bewusstseinsstrom und erzeugen dadurch einen gewissen Sog, so entschied sich der Komponist in seinem Konzert für Klarinette und Orchester bewusst für abgezirkelte Kleingliedrigkeit . Er hat es in nicht weniger als sieben Sätze unterteilt, allerdings ohne Pause aufeinanderfolgend. Diese formale Unterteilung hat in erster Linie klangliche Gründe, die mit der Balance der unterschiedlichen Instrumente des für das Stück vorgesehenen 18-köpfigen Kammerorchesters zusammenhängt. Dies hat Elliott Carter anschaulich erläutert:
“Als ich von den Musikern des Pariser Ensemble intercontemporain, das mehrfach Werke von mir aufgeführt hat, gebeten wurde, ein zweites Stück für sie zu schreiben, entschied ich mich für ein Klarinettenkonzert, weil ich wusste, was für ein wundervoller Künstler in ihren Reihen der Klarinettist Alain Damiens ist. Meiner Ansicht nach muss der Solist in einem Konzert bei jedem seiner Einsätze deutlich gehört werden. Deshalb galt mein besonders Interesse, ein Werk für eine kleinere Gruppe des Ensemble intercontemporain zu schreiben, was auch mit Blick auf mögliche Tourneen mit diesem Stück praktikabler war. Als Hauptproblem erwies sich dann aber der Umstand, dass für das Werk nur fünf Solostreicher vorgesehen waren, die von den vielen anderen Instrumenten leicht überdeckt werden konnten. Nachdem ich über dieses Problem nachgedacht hatte, entschied ich mich, das Werk in sechs kurze Abschnitte zu unterteilen, in denen die Soloklarinette jeweils auf eine bestimmte Instrumentengruppe mit ähnlicher Klangfarbe trifft. Als siebten Abschnitt habe ich einen Satz komponiert, bei dem das gesamte Orchester mitwirkt. Auf diese Weise ist die Klarinette nach einem kurzen Tutti am Anfang des Konzerts zunächst mit der Harfe, dem Klavier, dem Marimbaphon und dem Vibraphon assoziiert, im zweiten Abschnitt mit den übrigen Schlagzeuginstrumenten ohne bestimmte Tonhöhe und so weiter. Jeder Abschnitt hat selbstverständlich seinen eigenen Ausdruckscharakter und stellt einen Vordergrund dar für die kurzen Kommentare aus den übrigen Reihen des Orchesters.”
In seinen Ausführungen deutet es Carter schon an: Er setzt nicht schematisch einzelne Instrumentenfamilien im Dialog mit der Klarinette ein, sondern trifft pro Abschnitt eine individuelle Auswahl. Nach den beiden Abschnitten mit den Schlaginstrumenten folgen Sektionen mit akkordisch geführten Blechbläsern und diskreten Streichern, bewegten Holzbläsern, solistisch konturierten Streichern und schließlich mit bewegteren Blechbläsern, bevor giocoso das gesamte Orchester einsetzt. Als Scharniere zwischen den klangfarblich klar umrissenen Abschnitten hat Carter jeweils kurze Tutti-Zwischenspiele eingesetzt.
Die formale Aufteilung in verschiedene Klangfarbengruppen hat auch strukturelle Konsequenzen: Es kommt nämlich nicht zu einem für die Gattung oft typischen antagonistischen, konfliktreichen Wettstreit zwischen Soloinstrument und Orchesterkollektiv. In Carters Konzert für Klarinette und Orchester sind sämtliche Kräfte stattdessen auf Einvernehmen und Zusammenspiel ausgerichtet; die jeweiligen Orchesterinstrumente lassen der Soloklarinette in den einzelnen Sektionen den Vortritt. Lediglich der letzte Satz, wo die geballte Kraft des Kammerorchesters gegen die Klarinette aufgewendet wird, bietet Raum für ein kurzes Kräftemessen zwischen Kollektiv und Soloinstrument.
Heinz Holliger: Janus. Doppelkonzert für Violine, Viola und kleines Orchester (2011/2012)
Der römische Gott Janus, Schutzherr der Anfänge, der Türen, Tore und Durchgänge, hat bekanntlich zwei verschiedene Gesichter. Als solch kontrastierende Antlitze versteht Heinz Holliger die beiden Streichinstrumente, die sich im klassischen Orchester am nächsten stehen, Violine und Viola, und präsentiert beide als Gegensatzpaar in seinem Doppelkonzert, das mit einem für die Dimensionen des reduzierten Orchesters relativ groß aufgestellten Schlagzeugapparat aufwartet. Die Dominanz des Perkussiven könnte bereits als erster Hinweis gedeutet werden, dass dieses Werk nicht auf eitle Harmonie abzielt, sondern ihm das Widerborstige einkomponiert ist: Tatsächlich charakterisieren Opposition, Polarisierung, Widerspruch und Kontrast den Einsatz von Violine und Bratsche in Holligers Doppelkonzert.
Gerade die Gegensätze der beiden auf den ersten Blick so ähnlichen Instrumente werden herausgekehrt und verstärkt. Das Werk ist ausdrücklich als Kommentar auf Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonia concertante konzipiert, jedoch als bewusste Antithese zum einvernehmlichen Zusammenspiel der beiden Solisten, das hier zelebriert wird. Janus wurde als Auftragswerk der Salzburger Festspiele 2012 komponiert und in diesem Rahmen in der Reihe “Salzburg Contemporary” unter Holligers Leitung uraufgeführt – in dem Konzert, bei dem auch das Mozart-Werk erklang.
Die Hybrid-Gattung zwischen Sinfonie und Konzert, die Mozart mit seiner 1779 in Salzburg entstandenen Sinfonia concertante verfolgte, hatte dieser zuvor bei der Hofkapelle in Mannheim kennengelernt, damals Kaderschmiede der Avantgarde. Die beiden Soloinstrumente Violine und Bratsche setzt Mozart in Dialogen, mit Imitationen und geradezu organisch entwickelten Fugati in Beziehung. Der Idylle des Zusammenspiels traut Heinz Holliger in seinem Doppelkonzert Janus nicht mehr: Er betont in Janus gerade die Eigenheiten der beiden Instrumente, die sie voneinander unterscheiden: Die Violine lässt er in ätherischen Höhen schweben und hell glitzern, die Bratsche erdverbunden klingen und schreibt ihr Klagegesänge in die Stimme.
In Interviews betont Heinz Holliger oft, wie wichtig es ihm ist, seinem Publikum die Ohren für Neues zu öffnen: “Ein Publikum, das nicht ständig mit Nebensächlichkeiten beschäftigt ist, öffnet sich vielleicht eher einer wirklichen Botschaft. Doch oft sind Menschen in Mitteleuropa so gestresst von der Profitmaximierung und all den anderen ‘netten’ kapitalistischen Nebensächlichkeiten, dass wir gar nicht mehr zu uns selber kommen können. Und damit sind wir auch unfähig, Musik wirklich aufzunehmen.”, hat er zu Beginn der internationalen Finanzkrise in einem Interview mit der Neuen Zeitschrift für Musik gesagt. Indem er Hörerwartungen immer wieder in seiner Musik gegen Strich bürstet, lässt er das Publikum aufhorchen.
Klaus Huber: Tenebrae für großes Orchester (1967)
“Als ich Tenebrae niederschrieb, stand ich unter einem gewaltigen Druck: Meine Vorstellungen kreisten um das Symbol ‘Sonnenfinsternis’, ‘Verfinsterung des Lebens’: Nicht im Sinne der Stifterschen Beschreibung mit Mitteln der Musik, sondern viel eher in jenem Sinne der Anrufung eines uralten Menschheitssymbols, das durch eine gewaltige Pression bis in die innersten Tiefen menschlicher Existenz einzudringen vermag. Es ist daher möglich, ja wahrscheinlich, dass die Instrumente des Orchesters unter einem ähnlichen Druck stehen, wie ich ihn während der Arbeit an Tenebrae auszuhalten hatte.
Jahrtausendealte östliche Denkweisen machen keinerlei grundsätzliche Trennung zwischen dem Menschen und der Natur, dem Kosmos. Beides ist geborgen als Ganzheit. Unser abendländisches Weltbild ist aber seit langer Zeit extrem homozentristisch. Alles, was uns nicht rational durchschaubar erscheint, empfinden wir spontan als uns feindlich. Auch und gerade in der Musik. Es gibt eine unvergleichliche Vision bei Jean Paul: ‘Der Traum vom All’. Ein Bote führt den Dichter durch alle unbegrenzten Räume des Kosmos. Der Mensch erlebt diese Geistreise – die übrigens spätere Erkenntnisse der Astronomie antizipiert – mit Angst, Schrecken, aber auch mit Hoffnung. Eben diese Vision beeinflusste die Komposition meiner Tenebrae.”
“Tenebrae factae sunt”, so lautet der Beginn des achten Responsoriums aus der Karmette, ausgehend von der Passionsgeschichte nach dem Matthäus-Evangelium, wo es bei der Schilderung der Kreuzung heißt: “Von der sechsten bis zur neunten Stunde herrschte eine Finsternis im ganzen Land.” Diese Finsternis ist ein Topos aus der katholischen Liturgie und aus der Musikgeschichte; man denke etwa auch an die Tenebrae-Responsorien von Tomás Luis de Victoria. Einen deutlichen Hinweis auf die Passionsgeschichte liefert Klaus Huber in seinen Tenebrae, indem er dem zweiten Teil des dreisätzigen Werks ausdrücklich den Titel Golgotha gegeben hat. Dennoch: Huber möchte seine komponierte Evokation der Finsternis nicht auf die christliche Passion verengt wissen, sondern als Metapher, die sich als Sediment seit Jahrtausenden im kollektiven Gedächtnis der jüdisch-christlichen Tradition abgelagert hat. Bei der Uraufführung 1968 in Warschau dürften vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs zudem noch weitere Assoziationen des Begriffsfeldes “Finsternis” freigesetzt worden sein.
Bei der Verleihung des Beethovenpreises der Stadt Bonn an Klaus Huber für Tenebrae 1970 stieß diese ausdrucksstarke Reihenkomposition auf Widerstand bei den Orchestermusikern, die das Werk zum Festauftakt einstudieren sollten. Die aufrüttelnden Orchesterschläge, flirrenden Klangfelder, mitunter geradezu brutale Ausbrüche, die harten metallischen Akzente der Glocken, aber auch die orchestrale Zurücknahme, die zaghaften Streichervorstöße und die intimen solistischen Passagen bis an die Grenzen der Wahrnehmung deuten darauf: Dies ist eine Musik der Extreme, eine existenzielle Musik – und mit Blick auf die heutige Produktion zeitgenössischer Komposition erweist sich dieses Mitte der 1960er Jahre entstandene Werk als ungeheuer visionär.
Eckhard Weber