Jennifer Walshe, Ihre Komposition ALL THE MANY PEOPLS für für Solostimme, Video und Elektronik von 2011 bezeichnen Sie als eine Arbeit, die einen Wendepunkt in ihrem künstlerischen Schaffen markiert. Was genau ist damals passiert?
In ALL THE MANY PEOPLS liegt ein klarer Schwerpunkt auf der Verwendung von Texten. Aber bevor ich dieses Stück komponiert habe, hatte ich kaum gesprochene, gesungene oder geschriebene Sprache in meine Arbeiten integriert. Das hatte einen konkreten Grund: Ich habe damals viel mit meiner Stimme improvisiert. Und der Gebrauch von Text in freier Improvisation ist gemeinhin nicht gern gesehen. Denn sobald ein Sänger oder Stimmkünstler mit anderen Musikern auftritt und Text verwendet, verlagert sich die gesamte Aufmerksamkeit des Publikums auf diese Person. Ich schätze, das liegt daran, dass wir darauf trainiert sind, auf verbale Nachrichten besonders zu achten. Mein Hauptziel war also immer, auf keinen Fall wie ein Sänger oder Rezitator zu klingen, sondern eher wie ein weiteres klang- und geräuschproduzierendes Instrument, das nicht direkt etwas ›sagt‹.
Diese Haltung änderte sich schlagartig, als ich 2008 den Filmkünstler und Musiker Tony Conrad kennenlernte. In einer Improvisationssession sagte er einmal zu mir: »Ich verstehe nicht, warum du es vermeidest, mit Text zu arbeiten. Du liebst es doch, Geschichten zu erzählen, Stimmen zu imitieren und Bücher zu lesen. Es würde vollkommen Sinn für dich machen, beim Improvisieren Texte zu verwenden.« Daraufhin probierte ich es aus und fühlte mich auf Anhieb wie befreit. Das war ein wichtiger Moment für mich. Denn tatsächlich sehe ich in Sprache eine unschätzbare Kraft: Text ist ein frühes ›Warnsystem‹ für kulturellen Wandel und aktuelle gesellschaftliche Belange. Man muss sich nur einmal anschauen, was und vor allem wie bei Twitter oder Facebook geschrieben wird. Da gibt es Erzähl- und Kommunikationsmodi, die in keinem anderen Medium zu keiner anderen Zeit funktioniert hätten. Genauso spannend ist es, gesprochene Sprache zu beobachten. Ich liebe Akzente, Slang, neuerfundene Worte, neu entstehende Witze. Kurzum: Text ist überall, Sprache verändert sich stetig und das fasziniert mich. Mit ALL THE MANY PEOPLS habe ich dann ein Stück komponiert, das eine Vielzahl an Texten unterschiedlichster Herkunftsquellen zusammenbringt.
Was sind das für Texte und wo haben Sie sie gefunden?
Hauptsächlich arbeite ich mit Fundstücken aus dem Netz, denn das ganze Stück reflektiert bestimmte Entwicklungen, die im Laufe der letzten Jahre im und mit dem Internet stattgefunden haben: Plötzlich können wir ohne Probleme auf so viel Textmaterial wie noch nie zugreifen, und zwar sowohl auf Jahrzehnte oder Jahrhunderte alte Quellen wie auch auf Neues, auf unmittelbar Entstehendes.
All diese Findlinge sind wie viele verschiedene Stimmen, die ich in meiner Komposition aufeinandertreffen lasse. Das hat mich auch zu der Wahl des Titels ALL THE MANY PEOPLS gebracht, denn es ist ein Stück über die Massenhaftigkeit von Informationen und über die Stimmen der Menschen, die dahinterstecken. Gezielt habe ich dabei auch mit einer falschen Schreibweise bei ›PEOPLS‹ gearbeitet, denn unbewusste oder bewusste Fehler in der Sprache gehören für mich ohne Frage in unsere Welt. Wenn die Texte, die in Musik vorkommen, immer nur die korrekte und perfekte Wortwahl beinhalten, dann fehlt ein entscheidender Teil dessen, was Sprache heute ausmacht.
Wie interpretieren und illustrieren Sie dann all diese gesammelten Texte mit Körper und Stimme? Und wie schaffen Sie es, als alleinige Performerin auf der Bühne die Heterogenität des Materials abzubilden?
Zunächst einmal hat jedes Textfragment für mich nicht nur einen wörtlichen Inhalt, sondern auch eine akustische und semantische Identität – und damit eine eigene Stimme. Manchmal muss ich mich erst einmal eine gewisse Zeit mit einem Text beschäftigen, bis sich mir seine klangliche Identität erschließt, manchmal geschieht das aber auch schon, sobald ich ihn das erste Mal lese. Auf diese Weise habe ich etliche ›klingende Textkörper‹ erarbeitet und überlegt, wie sie klanglich zusammenpassen.
Meine Aufgabe auf der Bühne ist es dann, all diese verschiedenen ›personae‹ nacheinander abzurufen und verbal abzubilden, was eine recht virtuose Angelegenheit ist. Es geht hierbei weniger darum, Rollen oder Charaktere im schauspielerischen Sinne darzustellen, sondern eher um Unterschiede in Stimmtimbre und Stimmmelodie. Das müssen übrigens nicht immer menschliche Stimmen sein. Stellenweise habe ich auch versucht, typisch maschinelle Computerstimmen nachzubilden. So entwerfe ich also auf der Bühne ein Mosaik aus verschiedenen Stimmtypen, mit denen all die multiplen Informationsströme abgebildet werden, mit denen wir uns tagtäglich umgeben.
Ihre Stimmperformance ist nur eines von mehreren kompositorischen Elementen in dem Stück. Sie arbeiten zusätzlich mit einem Tonband und einem Film, wodurch eine multimediale Darbietung entsteht. Welche Rolle spielen diese Elemente? Behandeln Sie Elektronik und Video wie zusätzliche Instrumente in einem mehrstimmigen Werk?
Ja, ich sehe dieses Zusammenspiel als eine Art Polyphonie an. Im ersten Teil des Stückes gibt es nur meine Stimme und die Elektronik, im zweiten Teil kommt dann das Video dazu. Die Klänge vom Band setzen sich u.a. zusammen aus den typischen 8-bit-Sounds früher Computerspiele, schlecht produzierten Voice-overs von Videospielen und anderen trashigen elektronischen Klängen. Dazu kommen Field Recordings, die ich in New Yorker U-Bahn-Stationen gemacht habe, Bruchstücke von Aufnahmen streitender Ehepaare und andere Klänge von überall her. Ähnlich heterogen sind auch die Elemente des Videos. Für mich sind Ton- und Bildspur wie zusätzliche Stimmen, mit denen ich als Performerin interagiere. Ich stelle mir hier eine Theaterform vor, in der alle Elemente gleichwertig sind. Nicht der Text ist die einzig dominante Komponente, die von den anderen Ebenen gestützt wird, sondern alle Elemente sind sorgfältig ausbalanciert.
Mit so vielen medialen Ebenen zu arbeiten und auf so viele Materialquellen zurückzugreifen, birgt immer die Gefahr, ins Beliebige zu verfallen. Wie sind Sie diesem Risiko beim Komponieren entgangen?
Ich denke, das beste Rezept dafür ist ›Mustererkennung‹. Bevor ich mit dem Komponieren begonnen habe, hatte ich eine riesige Menge an Texten auf meinem Rechner und in Notizbüchern angesammelt. Um dann eine sinnvolle Auswahl für das Stück zu treffen, habe ich immer geschaut, welche Bausteine in Kombination miteinander für mich Sinn ergeben. Das waren etliche Stunden Arbeit. Und manchmal habe ich sogar festgestellt, dass es auch eine Form der Sinnstiftung sein kann, wenn etwas keinen Sinn ergibt. Ebenso habe ich mich mit der Frage von Homogenität oder Kontrast, harten Schnitten oder weichen Übergängen beschäftigt. All diese Dinge spielten beim Komponieren eine Rolle. Wie ein Puzzle habe ich das Stück zusammengesetzt, und allmählich nahm es Form an.
Wichtig ist es immer, nicht aus den Augen zu verlieren, dass eine Komposition von etwa 50 Minuten Dauer unbedingt Form und Struktur braucht, damit man dem Geschehen folgen kann. So habe ich entschieden, das Stück in zwei Hälften zu gliedern. Im ersten Teil IN GLORIOUS MONO ist die Textur ausgesprochen dicht, das klangliche Geschehen extrem intensiv und energiegeladen. Irgendwann gelangt das Stück dann an einen Punkt, an dem es sowohl für das Publikum als auch für mich als Stimmperformerin zu anstrengend wird und eine Pause notwendig ist. An dieser Stelle verstumme ich für mehrere Minuten und das Video wird als ein neues Element eingeführt. Der zweite Teil des Stückes I STILL LOVE YOU NEW YORK ist dann insgesamt deutlich ruhiger und die Stimmperformance zurückhaltender, so dass der Fokus sich mehr auf den Film verlagert.
All diese Gedanken über Struktur mache ich mir nicht etwa, weil ich glaube, dass ich meinem Publikum nichts Anstrengendes zumuten kann. Im Gegenteil: Ich mag es, zu überwältigen und zu überfordern. Aber gleichzeitig stelle ich mir auch immer die Frage, wie ich selbst die Aufführung eines solchen Stückes erleben würde. Und ich möchte Gelegenheiten anbieten, die Ohren wieder zu entspannen und das Hören zu reinigen bzw. zu neutralisieren. Denn nur so kann sich wieder neue Aufmerksamkeit für das Folgegeschehen bilden. Man könnte diese Strategie vergleichen mit dem gezielten Einbeziehen eines Sorbets in ein herzhaftes Elf-Gänge-Menü. Es geht um weitaus mehr, als um das Planen abstrakter Formspiele. Es geht um das unmittelbare Erleben und Erfahren einer Komposition.
Und dieses Erleben schließt bei Ihnen offenkundig eine Überwältigung, eine Reizüberflutung mit ein. Wieso haben Sie sich für diese extreme Intensität und das insgesamt hohe Tempo entschieden?
Ehrlich gesagt denke ich, dass das, was ich in ALL THE MANY PEOPLS mache, kein bisschen intensiver und dichter ist als das, was die Menschen tagtäglich erleben. Wenn wir Zeit im Internet verbringen oder einfach nur auf die Straße gehen, sind wir ständig mit einer riesigen Fülle an Informationen konfrontiert. Verschiedenste Eindrücke prasseln gleichzeitig auf uns ein, von denen unzählige in Textform sind. Um dieser Informationsflut nicht hilflos ausgeliefert zu sein, haben wir Methoden entwickelt, vermeintlich Unwichtiges auszublenden oder Details zu übersehen. Wir haben uns daran gewöhnt, die Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren: Wenn wir beispielsweise im Konzerthaus sitzen und einem großen Orchester zuhören, machen wir uns nicht unbedingt klar, dass dort eine Hundertschaft von Menschen auf der Bühne sitzt, die alle irgendetwas anderes tun. Stattdessen sehen wir einen homogenen Klangkörper und unser Gehör fasst mehrere Stimmen zur Melodie, andere zur Begleitung zusammen. Diese Dinge haben wir gelernt, um uns konzentrieren zu können. Dennoch gibt es oft noch viel mehr zu erleben als das, was wir tatsächlich wahrnehmen. Und genau das möchte ich in meinem Stück abbilden. Es geht mir nicht darum, ein winziges Detail zu isolieren, auf einem Sockel zu positionieren und wie ein Ausstellungsstück zu präsentieren. Sondern ich versuche mich mit meiner Komposition innerhalb all dieser Eindrücke zu bewegen, die uns die Welt liefert. Das moderne Leben ist eben vieldeutig und überwältigend. Das sollten wir uns bewusst machen und es nicht ignorieren.