Die Mutter von Iris ter Schiphorst war Pianistin, Klaviermusik erfüllte das Heranwachsen der Komponistin. Wie die niederländische Sprache des Vaters und das Deutsch der Mutter prägte sich die Komponistin die Musik wie eine dritte Muttersprache ein. So erläuterte dies Iris ter Schiphorst einmal in der Zeitschrift Positionen: »Ich lernte sie ›en passant‹, eben so, wie man Sprachen lernt, die man täglich hört, ganz selbstverständlich über das Gehör, durch Mimesis – auf dem Klavier (…) teils in veränderter Form, in anderen Tonarten, mit anders zusammengestellten Teilen.«
Dieser erste Zugang – ohne den Umweg der Notenschrift – hat auch ihr Komponieren geprägt. Nicht zuletzt deshalb beschäftigte sich Iris ter Schiphorst auch mit elektronischen Klangerzeugern wie Tonband und Sampler: »Da diese Medien – im Gegensatz zur Schrift – den tatsächlichen Klang aufzuzeichnen in der Lage sind, das ›Reale‹ der Musik und nicht nur einen Code, der von irgendwelchen Musikern in Klang rückübersetzt werden muss«, so die Komponistin. Es überrascht deshalb nicht, dass sich Iris ter Schiphorst, die als junger Mensch viele Länder bereist hat, seit den 1990er Jahren mit Techniken schriftloser, also oraler Kulturen befasste. Davon zeugen beispielsweise nach bestimmten Strategien eingesetzte Wiederholungselemente und Ostinati in ihren Partituren.
Ihr Stück Eden cinema für präpariertes Klavier und Sampler wurde inspiriert vom Werk und der Biografie der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras, die in ihren Romanen und Theaterstücken ebenfalls auf verschiedenen Ebenen mit Wiederholungen arbeitete – mit wiederkehrenden Handlungsmotiven und Personen bis hin zu repetierten sprachlichen Wendungen und Schlüsselwörtern. Wie viele ihrer Werke behandelt Duras‘ Theaterstück L’Éden cinéma aus dem Jahr 1977 (eine kondensierte Bühnenfassung des 1950 erschienen Romans Un Barrage contre le Pacifique, in der deutschen Ausgabe übersetzt als »Heiße Küste«) Erinnerungen aus ihrer Kindheit und Jugend in Französisch-Indochina: Duras‘ Mutter, eine verwitwete Lehrerin, steckte ihre Ersparnisse in eine 200 Hektar große Reisplantage am Meer im heutigen Kambodscha, von der sie sich Reichtum versprach, die sie jedoch in den Ruin führte. Die Felder wurden mehrfach überschwemmt, die Ernte zerstört, Versuche, Dämme anzulegen, scheiterten kläglich. Diese und andere als traumatisch erlebten autobiografischen Erfahrungen hat Duras immer wieder enorm zugespitzt und verdichtet in ihrem literarischen Werk verarbeitet. So ergeben sich Parallelen zwischen Fiktion und Biografie: Sowohl die dem Wahnsinn verfallene, apathische Mutter in L’Éden cinéma als auch die Mutter von Marguerite Duras haben vor dem finanziellen Fiasko als Kinopianistin gearbeitet. Hier setzt das Klavierstück von Iris ter Schiphorst an, wie sie im Interview für Ultraschall Berlin ausführt: »In den Äußerungen von Marguerite Duras über ihre Kindheit in Indochina kann man immer wieder lesen, wie sehr sie dieser Umstand geprägt hat, genauer: als kleines Mädchen im dunklen Kino Eden cinema zugehört zu haben, wie ihre Mutter Filme auf dem Klavier begleitet hat. Diese Erinnerungen sind natürlich immer nostalgisch verfärbt (und evozieren bei einer Leserin wie mir einen entsprechenden Klang des Klaviers…). Auch in meiner Biographie gibt es eine Klavier spielende Mutter, die es immer wieder ›in die Fremde‹ verschlagen hat und der ich als kleines Mädchen abends oft heimlich zuhörte, wenn sie auf dem Klavier spielte. Das Klavier repräsentiert somit – wenn man will – in bestimmten Aspekten auch die Stimme der Mutter.«
Über Sampler scheint im Klavierstück Eden cinema zweimal die Stimme von Marguerite Duras durch, am Anfang und gegen Ende. Im Klavierpart sind insistierende Tonrepetitionen, ostinate Figuren, Motivwiederholungen und auch variierte Weiterführungen charakteristisch. Zudem treten Zitate auf, wörtliche, wie ein Aufblitzen aus Beethovens »Hammerklavier«-Sonate op. 106, sowie vage Anklänge an Stücke mit Tanzrhythmen, »Allerweltsmusik«, wie sie in Stummfilmkinos eingesetzt wurde. Die Präparation der Klaviersaiten – Metallteile an den hohen, Gummistücke an den tiefen – bewirkt eine deutlich wahrnehmbare klangliche Patina und begünstigt den Eindruck des Vergangenen – im Zusammenhang mit Duras auch lesbar als im Unterbewusstsein sedimentierte Traumata, deren undeutliche Spuren obsessiv an die Oberfläche drängen.
1995 in Berlin wurde Eden cinema noch mit einem gängigen Hardware-Sampler von Akai uraufgeführt. Zwei Jahre später kamen die ersten Software-Sampler auf, Computerprogramme, die einen Sampler emulieren konnten. Diese Variante hat sich in den späteren Interpretationen des Stücks durchgesetzt.
Eckhard Weber