Nach Motiven insbesondere des Finales der IX. Symphonie von Anton Bruckner für Orchester (2009) DEA
I »Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden …«
II »Komm, heiliger Geist und entzünde …«
III »Jetzt und in der Stunde des Todes«
Heinz Winbeck hat sich nie dem Zeitgeist unterworfen, und Moden der Avantgarde sowie damit einhergehende Dogmen haben ihn nie interessiert. Dass er sich der Vorstellung eines in die Gegenwart ausstrahlenden musikhistorischen Kontinuums und damit Vorläufern wie Joseph Haydn, Franz Schubert, Gustav Mahler oder Anton Bruckner verbunden fühlte, daraus machte Heinz Winbeck nie einen Hehl. Im Gegenteil, er positioniert im Musikgeschehen bis heute seine ästhetische Ausrichtung selbstbewusst und durchaus mit Erfolg. Seine kompositorischen Hommagen, Rekurse und Reaktionen auf bedeutende Komponisten vergangener Epochen sind für ihn insofern auch kein Blick zurück, »sondern nach innen«, wie er es einmal formuliert hat.
Im März 2010 wurden vom Bruckner Orchester Linz unter seinem Chefdirigenten Dennis Russell Davies im Konzertsaal Brucknerhaus Linz die drei Sätze der Symphonie Nr. 5 von Heinz Winbeck uraufgeführt. Der Untertitel des Werkes gibt bereits den Hinweis, worum es darin geht: »Nach Motiven insbesondere des Finales der IX. Symphonie von Anton Bruckner für Orchester«.
In der Geschichte der Symphonie nehmen Neunte der Gattung eine besondere Stellung ein. Nicht nur der Nimbus des künstlerischen Vermächtnisses und des letzten Wortes umweht sie, sondern auch etwas Jenseitiges: »Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe«, soll Arnold Schönberg 1911 am Grab Gustav Mahlers gesagt haben. Mahler war mit 50 Jahren über den Entwürfen seiner zehnten Symphonie gestorben. Seit Beethovens bahnbrechender Neunter schien es keinem Komponisten vergönnt zu sein, mehr als neun Symphonien zu schreiben. Franz Schubert, Felix Mendelssohn, Robert Schumann, Johannes Brahms und auch der von Heinz Winbeck hoch geschätzte Anton Bruckner kamen noch nicht einmal zu einer vollendeten Neunten. Bruckners dreisätzig hinterlassene Symphonie Nr. 9 ist wohl auch deshalb eines der berühmtesten Fragmente, weil der Versuch ihrer Fertigstellung sich besonders schleppend und quälend und damit letztendlich geradezu tragisch gestaltete. Fast ein Jahrzehnt lang, vom September 1887 bis zu seinem Tod am 11. Oktober 1896, hat Bruckner an seiner 9. Symphonie gearbeitet. Der Versuch, das Finale zu vollenden, nahm die letzten beiden Lebensjahre des Komponisten ein.
Im 20. Jahrhundert gab es mehrere Ansätze, einen Finalsatz für Bruckners 9. Symphonie aus überlieferten Skizzen und Partiturfragmenten zu gestalten, es kam zu Aufführungen und Einspielungen, die teils mehr, teils weniger überzeugten. Heinz Winbeck ist einen anderen Weg gegangen: »Tatsächlich habe ich mich während mehrerer Jahre mit diesem vermessenen Gedanken getragen, mich in die Strukturen im Werk Bruckners und das hinterlassene Material hineingearbeitet, auch mit den bereits vorhandenen kompositorischen Versuchen (Versuchungen?) auseinandergesetzt – das Ergebnis: es ist unmöglich. Gründe liegen für mich in der Redlichkeit im Umgang mit dem fragmentarischen Material, im Respekt vor der Unberechenbarkeit von Bruckners Genie, in der Vergeblichkeit anmaßender Stückelung eines vollendeten Lebens und Schaffensprozesses.« So hat er seine Überzeugung in einem Kommentar zur kompositorischen Auseinandersetzung mit Bruckner vor der Uraufführung seines Werks 2010 dargelegt. Gerade das Hervorheben des Nicht-Endgültigen, Nicht-Vollendeten, letztlich des Fragmentarischen, die bewusste Ausweisung als etwas Hypothetisches und Subjektives, diese Aspekte bestimmen Heinz Winbecks Symphonie Nr. 5. Der Komponist hat dies in seinem Kommentar dezidiert betont und eine weitere psychologische Perspektive eingebracht, die den Künstler Bruckner in seiner spezifischen Situation am Ende seines Lebens in den Blick nimmt. Heinz Winbeck hat dies erläutert: »Es handelt sich also nicht um einen weiteren Versuch, mit dem von Anton Bruckner hinterlassenen Material den Finalsatz ›fertigzukomponieren‹, ebenso wenig um eine neutrale musikwissenschaftliche Studie auf der Basis dieses Materials, noch weniger um eine Transposition in unsere Gegenwart, geleitet von der Frage, was uns Väterchen Bruckner heute zu sagen hätte. Ja, was denn dann?
Nach mehrjähriger Beschäftigung mit der Thematik verdichtet sich in mir die Wahrnehmung, wie sich ein Komponist fühlt, der mit der Last dieser ›unfertigen‹ 9. Sinfonie dem Tod entgegengeht und merkt, wie die letzten Einfälle und Visionen eine äußerste Zuspitzung erfahren und zugleich entgleiten, wie Einbrüche entstehen, wo vorher begehbares Land war, wie selbst die vertrauten und verehrten Vorbilder, deren großartige Gipfel man wenigstens von Ferne grüßen wollte, plötzlich zu dämonischen Autoritäten werden und man allein steht mit seinem Glauben auf schwankendem Boden.«
Heinz Winbeck betrachtet die drei Sätze seiner Symphonie Nr. 5 deshalb als »fragenden Versuch (…), den möglichen letzten musikalischen Wahrnehmungen Bruckners nachzuhören«. Trotz der gründlichen Erforschung des nachgelassenen Materials für das Finale seien, so betont er, lediglich in 4 von 1237 Takten tatsächlich direkte Zitate von Bruckners Musik zu finden. Ebenfalls habe er es vermieden, einen Orchesterklang à la Bruckner nachzuempfinden.
Die drei Sätze von Winbecks Werk tragen Überschriften, die alle aus dem Bereich des Sakralen stammen und auf den Katholizismus des gläubigen Künstlers Anton Bruckner hinweisen. »Für den stets Betenden markieren religiöse Textbausteine ähnlich Bojen über den Wellenbergen und -tälern der Musikflut die Wegrichtung«, so Winbeck. Gleichzeitig entsprechen diese deutlich markierten religiösen Konnotationen jenem verbürgten Vorschlag des späten Bruckner, in einem Konzert im Anschluss an die drei vollendeten Sätze der 9. Symphonie anstelle eines Finales sein 1886 uraufgeführtes Te Deum zu geben.
Der erste Satz von Heinz Winbecks Symphonie Nr. 5 hat den Titel »Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget«. Es handelt sich um ein Zitat aus dem Lukas-Evangelium (24,29), aus den Passagen, die die Geschehnisse nach dem Tod von Jesus Christus erzählen: Jesus erscheint zwei Jüngern, die auf dem Weg zum Dorf Emmaus sind. Als sie ihn schließlich am Brotbrechen erkennen, entzieht sich die Erscheinung ihren Blicken. Dieser erste Satz vollziehe, so Winbeck, »in einer zunächst sehr stillen, vortastend suchenden Weise den Aufbruch zum Abschied.«
Der Titel des zweiten Satzes »Komm, heiliger Geist und entzünde …« lehnt sich an den Text eines gregorianischen Pfingstantiphons an: »Komm, Heiliger Geist, erfülle die Herzen deiner Gläubigen und entzünde in ihnen das Feuer deiner Liebe.« Heinz Winbeck hat in seinem Kommentar zum Werk geschrieben, der Satz lege »mit Choral, Fuge und Hauptthema die letzte große und vergebliche Kraftanstrengung fieberhaft taumelnd bloß«.
Der dritte Satz von Winbecks Symphonie Nr. 5 trägt den Titel »Jetzt und in der Stunde des Todes«, womit gleichzeitig das gesamte Werk überschrieben ist, eine Paraphrase des letzten Verses aus dem Ave Maria, dem zentralen Mariengebet aus dem Ritus der römisch-katholischen Kirche. Der Satz zeigt laut Winbeck »die allmähliche Auflösung der Zeit nach dem Hindurchgang durch aufsteigende Erinnerungen aus dem eigenen sinfonischen Lebenswerk, gerufen nach Motiven der ach so verehrten Wagner’schen Götterdämmerung, einmündend in eine ›Halleluja-Vision‹«. Winbeck zitiert im letzten Satz Material aus »Siegfrieds Trauermarsch« aus dem Musikdrama Götterdämmerung von Richard Wagner, den Bruckner nahezu götzenhaft als leuchtendes Vorbild idealisierte. Während Bruckner an seiner 9. Symphonie arbeitete, soll die Partitur der Götterdämmerung auf Bruckners Klavier gelegen haben.
Tod und Auferstehung werden somit als zentrale Momente in Heinz Winbecks Symphonie Nr. 5 auf verschiedenen Ebenen verhandelt. Diese Herangehensweise lässt dieses Werk als äußerst differenzierte kompositorische Meditation über das Finale von Anton Bruckners unvollendeter 9. Symphonie erscheinen, jenes Werks, das der 2016 verstorbene Dirigent Nikolaus Harnoncourt einst als »Antenne ins 20. Jahrhundert« bezeichnet hat.
Eckhard Weber