1989 ist der britische Komponist Sir Harrison Birtwistle in einer Zeitschrift auf das Gedicht Weiß und Leicht von Paul Celan gestoßen. Die Verse Celans beindruckten Birtwistle tief, ließen ihn nicht mehr los. Er schuf eine Liedkomposition auf Weiß und Leicht und beschäftigte sich mehrere Jahre mit Leben und Werk Paul Celans. Der aus der Bukowina stammende Dichter, dessen Eltern von den Nazis deportiert wurden und umkamen, überlebte die Nazi-Besatzung seiner Heimat traumatisiert und seelisch verwundet. Die Shoa hat tiefe Spuren in Celans schriftstellerischem Schaffen hinterlassen, Todesfuge, sein bekanntestes Gedicht, zeugt eindrücklich davon.
Nach dem ersten Lied auf Worte des Dichters komponierte Birtwistle weitere Werke, die von Gedichten Celans inspiriert waren: die Vertonung Nacht und Tenebrae (1991) und Movement for String Quartet sowie zwei weitere Sätze für Streichquartett. Auf diese Weise erwuchs ein Zyklus, der schließlich 1996 unter dem Titel Pulse Shadows zu einer Werkgruppe zusammengefasst wurde. Birtwistle hat sie als „Meditationen zu Paul Celan“, so von Birtwistle bezeichnet. Pulse Shadows besteht aus insgesamt 18 Stücken, 9 Liedern für Sopran, begleitet von zwei Klarinetten, Bratsche, Cello und Kontrabass, und 9 Streichquartettsätzen. Direkten Bezug auf eine dichterische Vorlage nimmt von diesen Instrumentalstücken nur der Streichquartettsatz Frieze 4, der den Titel Todesfuge trägt. Insgesamt 4 solcher jeweils als Frieze genannten Stücke sind im Zyklus zu finden. Die Bezeichnung entspricht dem deutschen Begriff „Fries“, im Sinn eines Schmuckbandes in der Malerei, Bildhauerei oder Architektur. Das musikalische Material in diesen Frieze-Stücken wird wie eine Szene in einem Bildfries dargeboten, ohne es einer Entwicklung zu unterziehen. Mitunter aber entsprechen sich einzelne Figuren in den Friezes, so als ob es sich um Bruchstücke eines ehemals durchgängigen Frieses handeln würde. Diese musikalischen Hinweise auf Brüche sind in Entsprechung zu den brüchig und versehrt anmutenden Texten Celans gestaltet worden. Die 5 restlichen Streichquartettsätze, jeweils als Fantasia betitelt, sind dagegen freier gestaltet. Die 4 für Ultraschall Berlin ausgewählten Streichquartettstücke sind im Nebeneinander von scharfen Konturen und Härte sowie Fragilität und Zartheit typisch für die Musik von Harrison Birtwistle. Mitunter sind instrumentale Schreie zu hören, dann nehmen sich die Klänge wieder zurück und gehen, sich mühsam konstituierend, nur vorsichtig voran. An anderen Stellen wirkt die Musik ruhelos und aufgewühlt, versucht sich gegen eine fahle Düsternis aufzubäumen.
Die Stücke des Zyklus können auch einzeln oder in frei zusammengestellten Gruppen als autonome Werke aufgeführt werden. Stephen Pruslin, der das Libretto für Birtwistles Oper Punch and Judy verfasste, hat einmal zu Pulse Shadows bemerkt: „In seiner Ausgabe der Gedichte von Paul Celan hat Birtwistle eine ganze Reihe weiterer Texte als mögliche Kandidaten für eine Vertonung markiert – doch die offene Struktur des Zyklus impliziert weniger eine Fortsetzung, sondern will ganz im Sinne Celans als Sinnbild verstanden werden, als würden noch weitere Lieder und Quartettsätze still erklingen.“
Eckhard Weber