für Sopran und Violoncello (1998/2000)
Die Dichterin Lorine Niedecker (1903–1970) wird zu den Objectivist Poets gezählt, einer losen Gruppierung von Dichtern, die in den dreißiger Jahren in den USA an die Öffentlichkeit traten. Züge traditioneller Lyrik, etwa verdichtete Emotionen, ausgearbeitete Metaphorik oder die Betonung der Subjektivität, versuchte diese Strömung zu vermieden. Stattdessen wurde auf die knappe Form abgezielt, die lakonische Geste, direkte Beobachtung und eine möglichst realitätsnahe Betrachtung der Gegenstände, verbunden mit einer vergleichsweise nüchternen Sprache des Alltags. Die Gedichte von Lorine Niedecker, die lange Jahre in provinzieller Abgeschiedenheit im US-Bundesstatt Wisconsin lebte, enthalten oft skizzenhafte Naturbeobachtungen, die jedoch stets auf etwas Weiteres verweisen können. Die fragmentarische Syntax lässt die Verse wie spontan ausgestoßene Gedankenfetzen wirken. Die Dichterin hat nur wenig veröffentlicht, erst nach ihrem Tod 1970 wurde sie allmählich einem weiten Leserkreis bekannt.
Harrison Birtwistle hat 1998 die ersten 3 Lieder auf Texte von Niedecker komponiert, als Beitrag zu einer Festschrift anlässlich des 90. Geburtstags des amerikanischen Komponisten Elliott Carter in der Musikzeitschrift Tempo. Im Jahr 2000 kamen 6 Vertonungen als Kompositionsauftrag des renommierten Londoner Nash Ensembles hinzu. 2011 komponierte Birtwistle zusätzlich weitere 3 Settings of Lorine Niedecker, die sich mit den 9 Settings kombinieren lassen. Wie im Falle von Pulse Shadows kann aus diesem Vorrat aus insgesamt 12 Stücken auch eine Auswahl zur Aufführung getroffen werden. Dem lapidaren Charakter der Gedichte von Niedecker entspricht die Kürze der Kompositionen von Birtwistle, der einmal von „vocal miniatures“ sprach. Auch in ihrer Struktur und ihrem Ausdruck sind diese Kompositionen äußerst konzentriert und punktgenau. Statt sie als „Songs“ zu bezeichnen hat der Komponist sie im Titel „Settings“ genannt, was mit „Vertonung“ zu übersetzen wäre, aber im Englischen zudem die Vorstellung „in Musik setzen“ oder in „Klänge fassen“ transportiert, was eine große Behutsamkeit gegenüber den fragilen Textvorlagen andeutet. Wie auf das Wesentliche reduzierte Skizzen wirken diese Kompositionen. Der Sopranstimme ist ein Violoncello beigegeben, das äußerst dezent begleitet und nur in einzelnen Momenten in kurzen Gesten auf den Gesang reagiert. In den ersten beiden Settings laufen Gesang und Violoncello sogar bewusst nebeneinander her. Als „Musik von zerbrechlicher Schönheit (…) wie ein trockenes Blatt, das sich auflöst“ hat eine Kritik in The Times einmal Harrison Birtwistles 9 Settings of Lorine Niedecker bezeichnet. Doch gerade dies verlangt den Interpreten besondere Konzentration und Präzision ab.
Eckhard Weber