Eine weitere Dimension des Gespanns von Stimme, Text und Bedeutungsinhalt offenbart sich in Georg Friedrich Haas’ Drei Liebesgedichten von 2005. In dieser Vertonung der Gedichte Blüte, Heimlichkeit und Spiel von August Stramm, bei denen der Dichter weitgehend auf jede Syntax verzichtet, entsteht ein musikalisches Konzentrat von Bildern und Sinneseindrücken.
»August Stramm«, so Georg Friedrich Haas, »reiht in seinen Gedichten Wort an Wort zu einer vorwiegend klanglich und rhythmisch bedingten, expressiven Abfolge von Substantiven, Adjektiven und Pronomen, wobei es auch zu sprachlichen Neubildungen kommen kann. Wo er grammatikalisch vollständige Sätze bildet, vermitteln diese keine konkreten Inhalte, sondern formulieren frei assoziativ miteinander verbundene Metaphern und Bilder.« Gerade die extremen sprachlichen Verkürzungen und die radikale Reduktion auf ausdrucks- und bildstarke Begriffe verleiht der im Text manifestierten Zärtlichkeit und Leidenschaft eine emphatische Ausdruckskraft. Diese Verdichtung spiegelt sich auch im klanglichen Resultat wider, das von chorischen Clustern ebenso lebt ist wie von virtuosen Flüster- und Stotterkanons. Dem musikalischen Geschehen scheint eine sich unaufhörlich im Fluss befindliche, stellenweise dramatisch kulminierende Energie innezuwohnen.
»Stramms Arbeiten«, so Haas, »sind vergleichbar mit den etwa zur selben Zeit entstandenen frühen atonalen Kompositionen Anton Weberns, in denen musikalische Inhalte in ähnlicher Weise komprimiert sind. Wie in Weberns Musik finden sich in Stramms Gedichten Elemente einer quasi zeitlosen, auch heute noch – um die 100 Jahre nach ihrer Entstehung – andauernden Modernität.«
Leonie Reineke
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