Gene Pritsker: 40 Changing Orbits

für großes Orchester (2012)

Die New York Times hat ihn als »wagemutiges Multitalent« bezeichnet, die Zeitschrift The New Yorker als »Regeln überschreitenden Komponisten-Gitarristen (und Rapper), der klassische Strukturen mit Funk- und Rockrhythmen imprägniert«: Gene Pritsker, Jahrgang 1971, der bislang sechs Opern auf eigene Libretti komponiert hat, zudem Solo-, Kammer-, Orchestermusik sowie Stücke für HipHop- und Rock-Bands und der auch als DJ und Plattenproduzent tätig ist, sprengt sämtliche Kategorien zwischen E- und U-Musik, Autorschaft und künstlerischer Ausführung. Der Sohn sowjetischer Musiker, der mit seinen Eltern 1978 nach New York City kam und in Brooklyn aufgewachsen ist, studierte wie Kristjan Järvi an der Manhattan School of Music. Mit Järvi wurde während der Studienzeit 1993 das Absolute Ensemble gegründet, das sich als »multidisziplinäre elektro-akustische Kammer-Formation« versteht. Für diese Besetzung, für Kammerorchester, hat Gene Pritsker die ursprüngliche Fassung von 40 Changing Orbits komponiert, vorgestellt bereits 2012 beim Musikfest Bremen mit Kristjan Järvi und dem Absolute Ensemble.
Diese »40 wechselnden Umlaufbahnen«, wie der Titel übersetzt werden könnte, umfassen – typisch für Pritsker – vielfältige Idiome und Stilrichtungen: Zu Beginn bestimmen Minimal-Music-Einflüsse und elegante Salon-Walzer-Anklänge das Geschehen, parfümiert mit einer geschmeidigen Holzbläser-Pastoralidylle. Bald setzen markante Trommelklänge ein, die an Weltmusiktraditionen erinnern, sowie knackige Blechbläserakzente. Flackernde Begleitfiguren erzeugen den Eindruck ostinater Synthesizer-Samples. Melancholisch-verträumte Flöten- und Geigenklänge lassen den Appalachian Spring von Aaron Copland aufscheinen oder an sehnsuchtsvolle Weisen des Irish Folk denken. Aber auch balkanische Tänze, versetzt mit Jazz-Akkorden, klingen an. Am Schluss fließt das Stück im ruhigen Strom eines Symphonic Rock, um schließlich das Material augmentiert, in einer lässig gedehnten Form, auszubreiten. Trotz der Vielfalt zerfasert dies alles nicht, denn zusammengehalten werden sämtliche Transformationen durch die integrative Kraft des melodisch-harmonischen Patterns, das zu Beginn intoniert wurde und geradezu wie ein lapidarer, moderner Wiedergänger eines altehrwürdigen Cantus Firmus das Stück durchzieht. Auch in anderer Hinsicht hat Pritsker seine Lektionen in Musikgeschichte aufmerksam gelernt: Er spielt virtuos mit den Überwältigungsstrategien der Romantik, kann die Kräfte hymnisch ausbreiten und anschließend verklärt schweben lassen, um die Bewegungsimpulse, die zu Beginn des Stücks in Gang gesetzt wurden, sachte ausschwingen zu lassen.

Eckhard Weber