Dieses Frühwerk von Enno Poppe ist ambitioniert – und rekordverdächtig: Die 1993 komponierten 17 Etüden für die Violine, 2. Heft dauern insgesamt nur rund vier Minuten. Die einzelnen Kurz-Etüden folgen ohne Pause aufeinander, für Pausen wäre auch keine Zeit. Der Berliner Komponist untersucht in seinem lapidaren Stück »die Möglichkeiten der permanenten Ableitung«, wie er in einem Werkkommentar erklärt hat – und dies in geradezu atomisierten Verhältnissen, an einem Zweitonmotiv. Jede der 17 Etüden enthält 17 Veränderungen dieses Kurzmotivs, was insgesamt zu 289 (= 17²) Ausprägungen führt. Der Komponist betont, dass die Ausprägungen sich mitunter sehr weit vom Originalmotiv entfernen, was ganz offensichtlich im bewusst reduzierten Charakter des zweitönigen Ausgangsmaterials begründet ist. Die einzelnen Ausprägungen verbindet Poppe zu drei- und viergliedrigen Ketten, die »wiederum permanenten Variationen unterliegen und ihrerseits zu Ketten zusammengefasst werden, die wiederum Variationen unterliegen«, wie Enno Poppe im Werkkommentar darlegt. Das variative Spektrum umfasst sowohl die rhythmische als auch die intervallische Gestalt und zudem in vielfältiger Herangehensweise den Klang. »Ich hoffe, es in diesem Stück erreicht zu haben, die verschiedenen Details in der Verwandtschaft hörbar zu machen. Die starre Systematik der permanenten Ableitung, die man sofort erkennt, ermöglicht die Farbigkeit im Kleinen«, so Poppe im Werkkommentar.
Genau durchdacht, sorgfältig in den Details ausgearbeitet, ist dieses Werk auf sympathische Art spitzfindig in seinem Konzept, in dem ein trockener Humor mitschwingt. Wie oft bei Poppe. Schon der Titelzusatz »2. Heft«, was an weit gefasste Zyklen aus der Musikgeschichte denken lässt, etwa an Images oder Préludes von Claude Debussy, ist angesichts der extremen Kürze eine bewusst eingebaute Absurdität. Im technischen Anspruch und in der Dichte der Strukturen kann es dieses kleine Werk dagegen zweifellos mit den »Großen« aufnehmen.
Eckhard Weber