Auch im hohen Alter war Elliott Carter, der kurz vor seinem 104. Geburtstag 2012 starb, verblüffend produktiv und voller Inspirationen. Der Grand Old Man der Neuen Musik der USA, der in seiner Heimatstadt New York einst Charles Ives und Edgard Varèse als freundschaftliche Mentoren hatte und in Paris bei der legendären Kompositionslehrerin Nadia Boulanger studierte, hat in einer entspannt ungebundenen und ganz eigenen Weise Traditionen der europäischen Avantgarden mit Impulsen der amerikanischen Szene vereint. In seinem Spätwerk hat sich Elliott Carter immer wieder Soloinstrumenten zugewandt und darin eine für sich einnehmende Unmittelbarkeit, Leichtigkeit und strukturelle Klarheit erreicht.
Das Solowerk Inner Song für Oboe ist das Mittelstück seiner Trilogy für Oboe und Harfe, uraufgeführt 1992 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik von Heinz und Ursula Holliger, im Rahmen eines Konzerts, das dem Andenken des mit Elliott Carter befreundeten Komponisten Stefan Wolpe gewidmet war. »Die wunderbare Freundschaft, die ich für den Letzteren empfinde, wohnt in meinem Herzen wie eine kostbare Erinnerung«, hat Carter in einem Kommentar zu Inner Song über Wolpe geäußert. Der in Berlin geborene, heute noch immer viel zu wenig gespielte Komponist war vor dem NS-Terror ins Exil nach Palästina gegangen und lebte später in den USA.
Als Motto für Inner Song hat Elliott Carter eine Verszeile aus Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus ausgewählt: »Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus …«. Die Oboe entwickelt in Inner Song aus einem Triller eine getragene, vorwiegend legato gespielte Kantilene, die den gesamten Tonumfang des Instruments auslotet. Im Melodieverlauf sind zwischendurch kommentierende Phrasen eingebaut, etwa spitze Pizzicato-Figuren und Akzente, auftrumpfende Spitzentöne, Tremoli und klangliche Einfärbungen, etwa in Form von Multiphonics und Flatterzungeneffekten. Wie in vielen Werken Carters vermag auch dieses konzentrierte Stück die soghafte Wirkung eines ununterbrochenen Bewusstseinsstroms zu entfalten. Dies mag an der spezifischen Kompositionsweise Elliott Carters liegen und seinem besonderen Verständnis von Musik. In einem Interview wenige Jahre vor der Komposition von Inner Song erläuterte er dies:
»… der musikalische Gedanke selbst, natürlich bezogen auf meine Kompositionstechnik, ist fast immer eine Folge von Gedanken und die Vorstellung einer Folge und nicht bloß ein isoliertes Einzelereignis. Die isolierten Momente kommen in den Fokus, wenn das Stück geschrieben wird; aber die ursprüngliche Idee ist immer, wie die Musik fließen wird. Und dann allmählich wird jedes Detail klarer, während ich schreibe. (…) es ist nicht nötig, dass dies mittels einer Art logischer Entwicklung geschieht, nicht einmal dass man bestimmte Motive durchführt; manchmal ist es ein Aufeinandertreffen von zwei, drei oder manchmal vier gegensätzlichen Gedanken, die zu einer Konzeption führen, die dann von selbst ihre eigene Progression erfordert. Es scheint mir sehr wichtig, dass Musik eine Vorstellung von Verlauf und Bewegung enthält.«
Eckhard Weber