Die Berliner Komponistin Elena Mendoza, Professorin an der Universität der Künste Berlin, ist seit Jahren fasziniert vom klanglichen Potenzial von Alltagsgegenständen. Sie integriert sie deshalb mit Lust und Leidenschaft in ihre Kompositionen. Die Objekte gewinnen in diesen anderen Kontexten ungeahnte performative Qualitäten. Elena Mendozas Instrumentalwerke mit solch ungewohnter Besetzung rücken damit in die Nähe eines neuartigen Instrumentalen Theaters. Im 2015 entstandenen Kammerwerk Fremdkörper/Variationen, das 2020 auch bei Ultraschall Berlin vorgestellt wurde, wirkt deshalb neben Violoncello, Klavier und Schlagzeug auch ein Performer mit. Die musikalischen »Fremdkörper«, etwa eine Flasche, ein Glas, ein Kamm und eine Haarspange, werden in Fremdkörper/Variationen wie Instrumente eingesetzt. In Elena Mendozas Oper Der Fall Babel (Schwetzingen 2019) dienen Alltagsgegenstände wie Bücher, Stempel und andere Büroutensilien gleichermaßen als Requisiten auf der Bühne und als den Gesamtklang prägende Instrumente.
In ihrem Werk Stilleben mit Orchester, das nun bei Ultraschall Berlin 2023 zur Deutschen Erstaufführung kommt, durchdringt dieses tönende Performance-Konzept mit Alltagsgegenständen schließlich den gesamten kollektiven Klangkörper. Elena Mendoza hat einen Ansatz aus der Malerei in Musik übertragen: Klassische Stillleben zeigen Blumen, Bücher, Instrumente, Nahrungsmittel, Gebeine, tote Tiere, Textilien oder Interieurs und nicht zuletzt auch Haushaltsutensilien, die durch die Bildkomposition sowie aufgrund der farblichen Gestaltung, der Konturierung und der Abstufungen in der Helligkeit im wahrsten Sinne des Wortes in neuem Licht erscheinen. Die abgebildeten Dinge erhalten jenseits ihrer Alltäglichkeit eine Transzendenz. Genau dies geschieht auch mit den Objekten, die Elena Mendoza in das Orchester integriert. Stilleben mit Orchester wurde im Mai 2022 in Madrid vom Orquesta Nacional de España unter der Leitung von David Afkham uraufgeführt.
Elena Mendoza, wie kam es zur Komposition von Stilleben für Orchester?
Es war die Corona-Zeit, Ich habe dieses Stück 2020/21 geschrieben, in der Zeit des Lockdowns, als wir ja sowieso alle in unseren Wohnungen eingesperrt waren. Ich war hier in Berlin mit meinen ganzen Alltagsobjekten in meinem Studio. Dort habe ich sehr viele Gläser und Schüsseln, mit denen ich experimentiere. Mit Musiker:innen konnte ich mich zu jener Zeit ja sowieso nicht treffen. Diese Auseinandersetzung mit dem, was in den eigenen vier Wänden passiert, das war natürlich sehr präsent und es das hat mich auch dazu inspiriert, dies zu Kunst zu machen. Also zu sagen: Ich bin hier eingesperrt, aber kann mit dem, was mich umgibt, mit diesen alltäglichen Dingen doch zaubern.
Und wir sprechen nicht davon, dass Sie in ihrer Küche waren mit ihrer Familie, sondern im Studio, wo sie diese Sachen alle versammelt haben …
Ja, dort habe ich eine Menge solcher Dinge, weil ich ja schon lange damit experimentiere. Aus klanglichen Gründen. Weil ich einfach den Klang von Schüsseln, Gläsern und Flaschen so wunderschön finde. Aber auch, weil diese Objekte oft eine Verbindung schaffen zwischen Klang und Theater. Sie haben an sich eine theatrale Bedeutung. Weil es ja Objekte sind, die ursprünglich nicht als Instrumente gedacht sind. Insofern bekommt das Spiel darauf gleich eine performative Note.
Wie war es nun, die Objekte in das Orchester zu integrieren?
Beim Plan für das Orchesterstück hat es mich sehr gereizt, diese Objekte ins Orchester zu bringen und auch ein bisschen so einen Clash of Cultures auf diese Weise zu generieren. Denn es sind ja Dinge, die eigentlich nicht in den Konzertsaal gehören. Sie brechen die Gewohnheiten und die Erwartungen dessen, was in einem Konzertsaal zu hören ist. Und das hat mich sehr interessiert, weil ich diesen Rahmen der Orchesteraufführung oft als etwas zu eng empfinde.
Was meinen Sie damit?
Also dieses Ritual, dieses Auditorium, dieser geschlossene Raum, der engt mich irgendwie ein. Ich habe großen Spaß daran, den Versuch zu unternehmen, dies auf meine – sehr persönliche –
Art und Weise zu durchbrechen.
Sie sagen, dass diese von Ihnen erwähnten Objekte, diese »gastronomischen« Objekte, gut klingen. Aus welchem Material bevorzugen Sie diese Objekte?
Vor allem aus Metall. Ich probiere viel mit Metallschüsseln, also Rührschüsseln oder Salatschüsseln. Wenn man beispielsweise Wasser in diese Schüsseln einlässt, produzieren sie Glissandi mit wundervollen Resonanzen.
Wie gehe ich als Spieler praktisch dabei vor?
Sie schlagen mit einem Schlägel an eine mit Wasser gefüllte Schüssel, dabei gerät das Wasser darin in Bewegung. Wir haben das an vielen Stellen auch in meiner Oper Der Fall Babel eingesetzt. Und im Orchesterstück Stilleben mit Orchester werden diese Schüsseln ebenfalls verwendet, nur diesmal befinden sie sich auf den Pauken und sind nicht mit Wasser gefüllt. Durch die Bewegung auf den Pauken wird dann ein Glissando hervorgerufen. Die Geigen und Bratschen, also alle »Kinnstreicher« haben jeweils ein Weinglas, mit Wasser gefüllt, das sie zum Beispiel mit dem Bogen streichen. Die Celli und Kontrabässe haben geriffelte Konservendosen, die dann mit einem Tafelmesser wie ein Guiro gespielt werden. Diese Konservendosen sind mit Wasser gefüllt. Das ergibt dann ebenfalls kleine Glissandi. Die Bläser haben, entsprechend ihrer Kondition, leere Flaschen, in die sie blasen. Das ist eigentlich alles: verschiedene Schüsseln, Weingläser, Flaschen in unterschiedlichen Größen. Jede Musikerin und jeder Musiker hat in meinem Stück ein Objekt neben dem eigentlichen Instrument. Die Objekte erweitern den Gesamtklang des Orchesters. Im Laufe des Stücks verschwinden die Orchesterinstrumente klanglich, so dass am Ende nur noch die Objekte übrigbleiben. Aber im Großteil des Stücks sind die Instrumente am Geschehen beteiligt.
In vielen anderen Orchesterstücken, die Alltagsobjekte einbeziehen, übernimmt ja die Percussion das Spiel dieser Alltagsobjekte ….
Ja, bei mir sind es alle Mitglieder des Orchesters. Denn diese Objekte haben ja keinen Resonanzkörper, somit trägt ihr Klang im Orchestersaal nicht weit. Man müsste sie mit Verstärkung einsetzen, das lässt sich ja wunderbar machen. Doch in diesem Fall kommt praktisch die »natürliche« Verstärkung durch die Masse der eingesetzten Objekte zum Tragen. Dadurch dass tatsächlich die ganze Gruppe der Geigen an einem Glas reibt, ergibt das einen Klang, der auch trägt und der nicht zu leise ist. Es ist der große Chor der Objekte, der sie im Konzertsaal wahrnehmbar macht. Das war gerade auch die Herausforderung für mich, dies mit den realen Instrumenten zu kombinieren und eine Balance zu finden. Das ist gar nicht so einfach.
Die akustische Herausforderung ist eine Sache. Wie ist es aber mit den Musiker:innen, die gewohnt sind, ihre herkömmlichen Instrumente zu spielen, etwa als Streicher:innen, und nicht ein Objekt. Haben Sie diesbezüglich schon einmal Widerstände erlebt?
Also das Stück wurde ja in Madrid uraufgeführt, vom Orquesta Nacional de España. Im Vorfeld hatte ich relativ viele Gespräche mit dem Produktionsteam. Das Ganze hat sie vor größere Schwierigkeiten gestellt als ich gedacht hätte: diese ganzen Objekte zu besorgen und auf die Bühne zu bringen und nachher wieder von der Bühne zu nehmen. Eigentlich ist es ja keine Schwierigkeit, wenn jedes Orchestermitglied sein Objekt mitnimmt. Aber aus irgendwelchen gewerkschaftlichen Gründen im Vorfeld stellte das wohl ein Problem dar. Es war erstaunlich kompliziert für mein Dafürhalten, hat aber am Ende doch alles geklappt. Und von Seiten der Musiker:innen gab es überhaupt keine Widerstände. Im Gegenteil: Die Musiker:innen in Madrid waren sehr glücklich mit dem Stück. Es hat sie sofort verzaubert, sie waren wirklich interessiert und hatten Spaß dabei, die Objekte auszuprobieren. Ich war dann natürlich auch erleichtert. Ich hatte nämlich tatsächlich im Vorfeld die Befürchtung, besonders bei den Streichern, dass jemand zu mir kommt und sagt: »Ich habe nicht mein Leben lang Geige geübt, um dann auf einem Glas mit dem Bogen zu streichen.« Aber das ist überhaupt nicht geschehen. Es erfüllt mich deshalb mit Optimismus. Die Orchesterkultur ist heute offener als früher, das wird hier deutlich. Ich weiß zwar nicht, was mich in Berlin erwartet, aber von Seiten der Festivalleitung und der Produktion ist es prima. Ich hoffe, dass es mit den Musiker:innen in Berlin auch prima ist …
Das DSO hat ja viel Erfahrung mit zeitgenössischer Musik, es ist ja praktisch eines der Residenzorchester von Ultraschall Berlin.
Ja, das stimmt. Das DSO ist eine Top-Adresse. Deswegen bin ich auch sehr glücklich, dass mein Stück ins Programm genommen wurde. Letztendlich ist das Spiel mit den Objekten in meinem Stück für die Musiker:innen auch gut zu handhaben, es ist nicht wahnsinnig kompliziert. Ich habe es extra einfach gestaltet, dass es für jede Musiker:in zugänglich ist, gleich von welchem Instrument jemand kommt. Alle Techniken habe ich auch auf Videos dokumentiert, was als Hilfe für die Proben gedacht ist.
Wenn nun diese Alltagsgegenstände ins Orchester einziehen: Welche Konsequenzen hat dies für das musikalische Geschehen in den Instrumenten – abgesehen davon, dass sie sich allmählich zurückziehen?
Die Orchesterinstrumente reagieren natürlich auf die neue Situation mit diesen veränderten Klanglichkeiten. Es gibt viele neuartige Mischungen. An manchen Stellen imitieren die Orchesterinstrumente auch die Objekte. Es gibt zum Beispiel eine Stelle, bei der die Celli mit diesen erwähnten Blechdosen wie auf Guiros spielen. Dazu spielen die Geigen Klänge, die sehr gepresst sind, mit übermäßigem Druck auf dem Griffbrett, was dann relativ ähnlich klingt. Solche Dialoge treten im Stück auf. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem herkömmlichen Instrumentenklang und den Annäherungen an die Klänge, die mit den Alltagsobjekten entstehen.
Auf diese Weise werden die klanglichen Möglichkeiten im Kollektiv wirklich hochpotenziert. Noch eine Frage zum Titel: Stilleben – ausgerechnet für Musik. Wie ist das gemeint?
Es heißt ja im vollen Titel Stilleben mit Orchester. Also so wie etwa »Stillleben mit Blumen« oder auch »Stillleben mit Geige«. In der Kunstgeschichte gibt es ja viele Stillleben, auf denen Instrumente abgebildet werden. Natürlich wurde noch nie ein ganzes Orchester abgebildet, das ist der Witz bei der Sache. Aber letztendlich beziehe ich mich auf die Malerei und auf die Darstellung von Alltagsgegenständen in einem Stillleben, also in einem künstlerischen Kontext. Durch die Bildkomposition und durch das Licht bekommen solche eigentlich banalen Objekte wie Küchenutensilien eine sublimierte Position. Das ist die Analogie, auf die ich mit meinem Orchesterstück abziele: Durch diese Instrumentierung der Objekte und durch ihren komponierten Einsatz gehen sie über ihre Banalität hinaus. »Stilleben« ist außerdem eine Anspielung auf dieses stille Leben während des Lockdowns.
Also diese Alltagsgegenstände verändern auf diese Weise nicht nur ihre Funktion, sondern auch ihre Bedeutung?
Genau! Und gleichzeitig ist es eine Art Verteidigung des Kleinen, eine Selbstbehauptung der kleinen Dinge. Verbunden mit dem Ansatz, dass auch große Veränderungen durch kleine Dinge bewirkt werden können. Und vielleicht nicht immer durch die ganz großen ideologischen Parolen. Es ist wie eine Beleuchtung der alltäglichen Ebene des Lebens im Gegensatz zu den großsprecherischen Themen, die uns oft umgeben. In Madrid hat mir übrigens jemand vom Orchester gesagt, das Stück habe irgendwie so eine innere Unruhe, es sei düster. Ich dagegen habe es überhaupt nicht als düster konzipiert und empfinde es auch nicht so. Aber wie man die Musik wahrnimmt, ist natürlich sehr subjektiv.
Interview: Eckhard Weber