„In der Vokalmusik des letzten Jahrzehnts ist viel passiert. Insgesamt dies, dass alle möglichen Äußerungsformen der menschlichen Stimme in die Musik einbezogen wurden. Da röhrt es und lallt’s, Aufschreie ertönen und Gelächter, es wird gejohlt, losgeheult, aber auch sirenenhaft gesungen. Sänger fauchen, zischen, keuchen; bringen erstickende Laute hervor; sie sprechen aber auch – normal, gefühlvoll, exaltiert, mühsam buchstabierend, oder sie verlieren die Sprache und bilden durch sinnlose Laute den Übergang in Gesang. Solche Praktiken gehen über das, was bis in die sechziger Jahre in Vokalmusik üblich war, weit hinaus. Die Stimmen werden von den Konventionen des Kunstgesangs freigemacht, also entfesselt.“ Mit dieser Einleitung, überschrieben von dem dialektisch anmutenden Zwischentitel „Emanzipation und Hemmung“, beginnt der Aufsatz Sprech- und Gesangsschule (Neue Vokalpraktiken) von Dieter Schnebel, den der Komponist 1970 verfasst hat. Er ist erschienen im 1972 veröffentlichten Band Denkbare Musik, der eine Reihe von Schriften Schnebels über Wagner bis Stockhausen und über die eigene Poetik versammelt. Der Text Sprech- und Gesangsschule (Neue Vokalpraktiken) fällt in die Genese von Schnebels Maulwerke (1968–1974), eine seiner einflussreichsten Arbeiten, ein Schlüsselwerk für die zeitgenössische Vokalmusik. Tatsächlich liefert der Text Sprech- und Gesangsschule (Neue Vokalpraktiken) einiges an theoretischem Hintergrund zu Maulwerke.
Dieter Schnebel, Jahrgang 1930, kann bereits heute in der musikhistorischen Rückschau als einer der Pioniere der experimentellen Musik in Europa betrachtet werden. Er hat gleich in mehrfacher Weise Grenzen gesprengt, bezüglich des Werk- und Gattungsbegriffs, im Verhältnis zwischen Komponist und Interpret, im Verhältnis zwischen Musik und Sprache sowie zudem hinsichtlich der Aufführungspraxis in der Auflösung der Kategorien konzertanter und szenischer Musik. Nach Jahrzehnten des orthodox verfochtenen Primats des Rationalen und der Konstruktion in der Nachkriegsavantgarde brachte Schnebel außerdem durch seine höchst individuellen Vorstöße wieder Komponenten wie Emotion und Expressivität in die Musik, dies jedoch frei von Konventionen, Traditionen und Stereotypen.
In Sprech- und Gesangsschule (Neue Vokalpraktiken) nennt Schnebel ausdrücklich als wichtige Einflüsse Edgar Varèse und John Cage, deren Beiträge zur Erweiterung des musikalischen Materials er hervorhebt. Er denkt diese Entwicklungen konsequent für den Bereich der Vokalmusik weiter, wie er in seinem Aufsatz ausführt: „Was zunächst in der Instrumentalmusik geschehen war, die Einbeziehung ungewöhnlicher, ja schmutziger Klänge und vor allem: von Geräuschen, das griff auf die Vokalmusik über – und griff die schönen Stimmen an. Das entsprang einem Ausdrucksbedürfnis, welches die verdrängen Äußerungen einer scheinbar zunehmend reibungslos funktionierenden Gesellschaft und überdies manch neuerworbenen freieren Ton herauszulassen suchte. Die Entbindung neuartiger Vokalprozesse führte zu stärkerer Expressivität als vordem die Emanzipation der Instrumentalmusik; wovon deren klangliche Erweiterung nur symbolisch handelte. Lösung hemmender Bande – das war in der neuen Vokalmusik direkt ausgedrückt, ja spielte sich in ihr ab.“
Die Maulwerke kamen 1974 bei den Donaueschinger Musiktagen zur Uraufführung, zunächst in Form einer Konzertdarbietung. Als Dieter Schnebel zwei Jahre später zum Professor für experimentelle Musik und Musikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin berufen wurde, fand er im Professor für Bühnenbild, dem Maler, Regisseur und Ausstatter Achim Freyer, einen Geistesverwandten mit dem Willen, unkonventionell und künstlerisch interdisziplinär zu arbeiten. Beide entwickelten mit Studenten das Projekt einer szenischen Version der Maulwerke, die Achim Freyer 1977 auf die Bühne brachte. Aus der Formation, die Maulwerke als neuartiges Musiktheater interpretierte, formierte sich das Ensemble Die Maulwerker, das seitdem auf internationalen Konzertreisen viele Werke von Dieter Schnebel dargeboten und eine Reihe seiner Arbeiten uraufgeführt hat. Später gab es unterschiedlichste Versionen der Maulwerke in verschiedenen Besetzungsstärken, von drei bis zwölf Ausführenden, in konzertanten Zusammenhängen, szenisch und als Film.
Diese mediale Vielgestalt, diese radikal freie Form liegt in der Natur der Maulwerke begründet. Denn Maulwerke ist ein offenes Werk, es besteht aus Arbeitsmaterial, das in unterschiedlicher Weise individuell ausgeführt werden kann. Dieter Schnebel geht darin an die anatomischen Grundlagen der Vokalmusik, an die Körperteile, mit Hilfe derer die klanglichen Hervorbringungen des gesamten menschlichen Artikulationsspektrums produziert werden: „Schnebels immer tiefer an die Wurzeln ihrer Erzeugung dringende Beschäftigung mit vokalen Vorgängen führte schließlich bei den Maulwerken (1968/74) dazu, dass er nicht mehr Klänge komponierte, sondern die Organbewegungen, die sie erzeugen. Musik ist bei Schnebel eine spezifische Art der Körpersprache“, hat der in Berlin lebende Komponist Michael Hirsch, langjähriges Mitglied der Maulwerker, in einem enzyklopädischen Artikel über Dieter Schnebel festgestellt. Eingehende Vorstudien in Phonetik, Stimmbildung, Körpermotorik und Sprecherziehung sind in die Maulwerke eingeflossen. Der Komponist selbst nennt Maulwerke in einem Kommentar „eine Komposition für (mehrere) Artikulationsorgane und (viele) Reproduktionsgeräte. Artikulationsorgane sind Mund, Zunge, Kehlkopf nebst der Nasenregion und anderen Hallräumen in Kopf und Körper, darüber hinaus, ja sogar primär die an der Atemregulation beteiligten Körperfunktionen. Derlei Organe werden zu den eigentlichen Ausführenden: sie sind das einzige, was sich in dieser Komposition bewegt.“ Mit den von Schnebel angeführten „Reproduktionsgeräten“ sind unterschiedliche Mikrofone, darunter auch Kehlkopf- und Kontaktmikrophone, gemeint, um auch leise und stimmlose Klänge bei der Darbietung hörbar zu machen, aber auch Filmkameras, wodurch die Klangerzeugung dem Publikum auch visuell nahegebracht werden kann. Denn Maulwerke sind aufgrund der Konzentration auf die Grundlagen der Lauterzeugung im menschlichen Stimm- und Atemapparat frei von sprachlichen Inhalten und damit letztlich von jeglicher semantischer Bedeutung. Nicht Wörter, Silben oder gar Phoneme, sondern die Vielfalt vokaler Klänge, die der menschliche Körper zu produzieren vermag, stellen den Inhalt der Maulwerke dar. Im Aufsatz Sprech- und Gesangsschule (Neue Vokalpraktiken) macht dies Dieter Schnebel deutlich: „In Maulwerke ist Artikulation auf sich selbst gestellt. Hier äußert sich Inhalt überhaupt nicht mehr vermittelt, durchs Vehikel eines noch so rudimentären Textes, sondern direkt. Sprache wie Inhalt entstehen in der Artikulation. Wenn beispielsweise in einer Phase der Mund verschlossen bleibt, also die Lauterzeugung sich im Innern abspielt, so spricht die Sprache des zurückgezogenen Ichs, in deren Lauten sich womöglich verborgene Regungen kundtun (…) Vielleicht ist es jene Sprache, auf die die Musik immer schon hinauswollte.“
Es liegt in der Natur der Sache, dass für einen solchen Ansatz, der das vokale Klangspektrum derart ausweitete, die in der europäischen Kunstmusik überlieferte Notation auf fünf Notenlinien nicht mehr ausreichen konnte: In Maulwerke wird deshalb eine andere Art Notierung vorgenommen, um das vom Komponisten und den Interpreten imaginierte Klangergebnis zu erzielen. Da Schnebel bei den Körperteilen ansetzt, die vokale Klänge erzeugen, werden in Maulwerke Mund-, Zungen-, Lippen-, Kehlkopf-, Lungen- und Zwerchfellbewegungen anhand von Zeichnungen und graphischen Verläufen dargestellten. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handele sich um ein naturwissenschaftliches Lehrwerk.
Auch für die Erarbeitung der Maulwerke zu Aufführungszwecken ist eine systematische Methode vom Komponisten entworfen worden: Die verschiedenen Vokaltechniken werden zunächst in Exerzitien erlernt, trainiert und erforscht. Dieter Schnebel hat dazu einmal geschrieben: „Das sind Übungen, welche etwa die Atemführung, die Kehlkopftätigkeit, die Mund- und Zungenbewegung bewusstmachen und zugleich die experimentelle Phantasie anreizen, so dass man die dabei gemachten Erfahrungen entwickelt.“ Nach den Exerzitien werden in einem weiteren Schritt, Produktionen, die Vokaltechniken zu musikalischen Einheiten verknüpft. Danach entwickeln die Vokalisten in der Phase der Kommunikationen eine gemeinsame Interaktion auf der Basis des erarbeiteten Materials. Schließlich werden in Form der Opera die Maulwerke dem Publikum vermittelt. Diese Erarbeitung umfasst nicht nur die körperlichen Vorgänge der vokalen Klangerzeugung, die Bewegungen der Artikulationsorgane bis zum Zwerchfell, sondern auch psychische Vorgänge. Schnebel spricht deshalb in Bezug auf Maulwerke auch von „psychoanalytischer Musik“. Maulwerker Michael Hirsch schlägt im erwähnten enzyklopädischen Artikel die Bezeichnung „psychosomatische Musik“ vor, „da der Dualismus von Körperlichkeit und psychischem Ausdruck durch den im Wortsinn radikalen kompositorischen Ansatz aufgehoben ist.“
Dieter Schnebel ist nicht nur Komponist, sondern auch studierter evangelischer Theologe. In den 50er Jahren war er als Pfarrer in Kaiserlautern tätig, in den 60er Jahren ging er Lehrtätigkeiten in Frankfurt am Main und München nach. Diese Erfahrungen mögen als Disposition Einfluss auf die Hinwendung zum Vokalisten als ganzheitlichem Menschen in den Maulwerken genommen haben. Dieter Schnebel, vom seriellen Denken kommend, was sich noch in der bestechenden Systematik seiner Erforschung des vokalen Klangs widerspiegelt, habe in dieser Hinsicht etwas völlig Neues in die Musik seiner Zeit eingebracht, hat Michael Hirsch in einem Interview für Ultraschall Berlin dargelegt: „Dieter Schnebel hat eine von der conditio humana ausgehenden Ästhetik begründet. Er hat serielle Methodik mit psychologischen Ansätzen, die die Serialisten überhaupt nicht akzeptiert haben, verbunden. Das hat kein Komponist in ähnlicher Weise gemacht.“
Dem besonderen Akt der Klangbildung in Maulwerke, der nicht eine gewissermaßen entleibte Stimme im Fokus hat, sondern den Ausführenden als Menschen, ist ein theatrales Element inhärent. Für die Schnebel-Forscherin Christa Brüstle von der Kunstuniversität Graz sind die Maulwerke auch in dieser Hinsicht ein Schlüsselwerk: „Mit Maulwerke gibt Dieter Schnebel in der Neuen Musik einen bedeutenden Impuls für die Performance-Kunst im deutschsprachigen Raum. Performance arbeitet mit dem Medium. Und genau dies geschieht in Maulwerke: Das Medium Stimme wird thematisiert“, hat sie in einem Interview für Ultraschall Berlin dargelegt. Später dehnte Dieter Schnebel seinen Ansatz aus Maulwerke in seinem Werk KÖRPER-SPRACHE (1979/80) als „sichtbare Musik“ auf den gesamten Körper aus. Gerade das große Maß an Freiheit in der Ausführung der Maulwerke in ihrer Eigenschaft als Materialkomposition macht den Ausführenden vom abhängigen Interpreten zum freien Performer, der kreativ mit dem selbst erarbeiteten Material auf der Bühne umgeht. In diesem Aspekt der Maulwerke wird die politische Dimension im Schaffen Dieter Schnebels deutlich. Der Komponist selbst hat in Sprech- und Gesangsschule (Neue Vokalpraktiken) zudem explizit von „emanzipatorischen Vokalaktionen“ gesprochen, verbunden mit der Hoffnung, dass diese „auf das Publikum überzuspringen“ vermögen. Schnebels Ausblick am Ende seines Aufsatzes ist konsequenterweise dann auch ein politischer: „Das ist freilich kein Kunstwerk mehr, sondern ein Prozess [,] der vielleicht eine gewisse Katalysatorwirkung hat, nämlich anderes anstößt. Was sich da ereignet, aber ist der Vorgang von Artikulation, der materielle Produktionsprozess der Stimme. In solcher Sprech- und Gesangschule wird Emanzipation einstudiert: Lösung von Stimmhemmungen. Das Kunstwerk, das keins mehr ist, führt Befreiung vor, um ebensolche zu übertragen.“
Eckhard Weber