Detlef Heusinger, seit 2006 inspirierender künstlerischer Leiter des SWR Experimentalstudios in Freiburg, ist gleichzeitig Gründer, künstlerischer Leiter und erster Dirigent des Ensemble Experimental. Das Solistenensemble, das 2021 sein zehnjähriges Bestehen feiern kann, besteht aus ausgewiesenen Experten in der Interpretation von Musik mit Live-Elektronik. Das Ensemble Experimental ist außerdem ein Forum des Austauschs von Wissen und Erfahrung, schließlich spielen hier Mitglieder unterschiedlicher Generationen miteinander, mitunter Künstler*innen, die seit dreißig Jahren mit dem SWR Experimentalstudio zusammenarbeiten, und etwa bei Uraufführungsproduktionen von Luigi Nono oder Pierre Boulez mitwirkten. Neben Partituren, Schaltplänen oder Programmierungen sollte die oral tradition in der Geschichte der elektroakustischen Musik nicht unterschätzt werden. Dies wird heute immer deutlicher. Genau dieser Wissenstransfer präge die Praxis im Ensemble Experimental, betont Detlef Heusinger im Interview für Ultraschall Berlin.
Detlef Heusingers Werk Ver-Blendung für Bassflöte, Akkordeon und Live-Elektronik ist 2016 im Kontext mit neuen, im SWR Experimentalstudio entwickelten Techniken der Live-Elektronik entstanden. Eine Inspiration von vielen zu Ver-Blendung war für Detlef Heusinger das Gemälde Seestück (bewölkt) (1969) von Gerhard Richter: An einer Stelle des Horizonts verwischen sich die Weite des Meeres und die tief liegenden grauen Wolken, die Übergänge lösen sich auf. Ähnliches geschieht auch mit dem vordergründig so unterschiedlichen Duo Bassflöte und Akkordeon in Ver-Blendung. Schon ohne live-elektronische Bearbeitung passen die beiden Instrumente sehr stimmig zueinander, hat Detlef Heusinger beim Komponieren festgestellt. Letztlich nicht verwunderlich, die Prinzipien der Klangerzeugung seien im Grunde genommen vergleichbar, stellt er im Interview für Ultraschall Berlin fest: »Beide arbeiten bei der Tonerzeugung mit strömender Luft, bei beiden prägen auch Luftgeräusche das Spiel. Die Klänge von beiden, obwohl unterschiedlich, können tatsächlich sehr gut miteinander kombiniert werden, so dass die klanglichen Grenzen zwischen dem einen und anderen mitunter verwischen.« Nicht zuletzt aus diesen Beobachtungen kam die Idee zu Ver-Blendung auf, die spezifischen Klänge von Bassflöte und Akkordeon auf unterschiedlichen Ebenen zu verschmelzen.
Das Stück geht zunächst von den traditionellen Funktionen der Instrumente aus: Die Flöte ist Trägerin der Melodie, das Akkordeon bringt die akkordische Schicht ein. Dies wird durch unterschiedliche Strukturen und Spieltechniken im weiteren Verlauf ständig konterkariert. Wenn die Flöte Multiphonics spielt, kann sich dies mittels Live-Eletronik zu einem veritablen akkordischen Spiel der Flöte auswachsen, sonst die Domäne des Akkordeons. »Die Elektronik fungiert mit ihren Techniken zur Verblendung der Klänge als Katalysator dieser Verschmelzung«, erklärt Detlef Heusinger. So sind etwa Kreuzblenden zwischen den Klängen möglich: Aus- und Einklänge der beiden Instrumente verlaufen damit simultan und können ein Klangkontinuum erzeugen. Eine wichtige Rolle nimmt auch das Verfahren der Convolution ein, eine klangliche »Faltung«, bei der etwa das eine Instrument live-elektronisch die Ausklänge des anderen und umgekehrt übernehmen kann. Das bedeutet, dass durch die Live-Elektronik sowohl Flöte als auch Akkordeon die kleinsten Bestandteile im Klang des jeweils anderen übernehmen kann. Eine Verschmelzung auf Mikroebene.
Er habe über Convolution zudem Anteile weiterer Instrumente hizugefügt, verrät Detlef Heusinger im Gespräch: So klingen Flöte und Akkordeon zuweilen, als ob sie in einem Klavierkorpus gespielt würden. »Der Resonanzrahmen des Klaviers wird hier Teil der Musikalisierung«, so der Komponist. Dies reicht bis zu einer derartigen Verfeinerung, dass die Ausklänge mitunter so gestaltet sind, als ob dabei nur bestimmte Klaviersaiten im Resonanzraum mitschwingen würden. Oder präparierte Saiten. Alles live-elektronisch erzeugt, ohne Klavier auf dem Podium. Auch Verfahren, die Obertonanteile und Geräuschanteile der beiden Instrumente austauschen können und vieles mehr ist möglich. So entstehen verschiedenste Räumlichkeiten im Klang, erzeugt durch Charakteristika beider Instrumente, bearbeitet während der Aufführung mit modulierenden Filtern der jüngsten Generation, die sämtliche festgelegten Parameter ständig verändern können. Auf diese Weise ergibt sich ein aufregend changierendes Klangbild. Hinzukommt, dass Anteile, die ansonsten nicht vom menschlichen Ohr hörbar wären, »klanglich mikroskopiert« werden können, erklärt Detlef Heusinger. Durch bestimmte Verfahren können auf diese Weise sehr leise Obertöne der Flöte hervorgehoben werden oder sachte Balggeräusche des Akkordeons. Und auch diese können wieder in ihrer räumlichen Klangwirkung eingesetzt und miteinander ausgetauscht werden. So überrascht es nicht, wenn der Komponist zusammenfassend zu Ver-Blendung sagt: »Das ist ein Werk, das versucht in hohem Maße mit gänzlich neuen Texturen zu arbeiten.« In ein neues Stück, das im SWR Experimentalstudio entsteht, fließt natürlich immer der State of the art aktueller Möglichkeiten ein, mit den neuesten Verfahren elektroakustischer Klangverarbeitung und -bearbeitung. Dass dies jedoch nicht bloß ein seelenloser, eitler showcase bleibt, dazu braucht es den kreativen Künstler. In Ver-Blendung wird diese gestalterische Kraft eindrucksvoll deutlich.
© Eckhard Weber 2021