Dániel Péter Biró, geboren in Madison im US-Bundesstaat Wisconsin, aufgewachsen in Ungarn, hat in Budapest, Bern, Würzburg, Wien und Frankfurt am Main studiert und in Princeton promoviert. Er ist ausgebildeter Gitarrist, Komponist und Judaist und hat in Ungarn, Kanada und den USA gelehrt. Heute ist er Associate Professor an der Grieg Academy im norwegischen Bergen. Bei der Vorbereitung seiner Werke arbeitet Dániel Péter Biró oft interdisziplinär. So auch für sein neues Stück De Natura et Origine, das er als Auftragswerk für Ultraschall Berlin 2019 geschrieben hat. Es geht zurück auf wissenschaftliche Forschungen, die er vor einigen Jahren begonnen hat: 2011 war er als Gastprofessor in der Abteilung für Informatik und Informationswissenschaften an der Universität Utrecht tätig. Im Rahmen eines Projekts über mündliche Kulturen in den Niederlanden hat er, gewissermaßen als musikethnologischer Feldforscher, an unterschiedlichen Standorten des Landes die Vielfalt jüdischer und muslimischer Rezitationspraktiken untersucht.
Da er während seiner Zeit in Den Haag nicht weit von der ehemaligen Wohnstätte und dem Grab des berühmten jüdischen Philosophen Baruch Spinozas (1632–1677) in Den Haag wohnte, begann Dániel Péter Biró gleichzeitig, sich mit Spinozas Leben und Werk zu beschäftigen, vor allem mit dessen Ethik. Der Komponist führt dazu aus: »In seiner philosophischen Abhandlung Ethik versuchte Spinoza, eine neue Art von Theologie zu präsentieren, die sich autonom gegenüber organisierter Religion, wie seiner eigenen portugiesischen jüdischen Gemeinschaft, rechtfertigte.« Einen Text aus Spinozas Ethik, das zweite Kapitel mit dem Titel Über die Natur und den Ursprung des Geistes, hat Biró seiner neuen Komposition für Stimme, Schalmei und Akkordeon zugrundegelegt. Die Textauszüge erscheinen im lateinischen Original sowie in hebräischer Übertragung.
Der Komponist schreibt über seinen kompositorischen Umgang mit dem Text von Spinoza in einem Werkkommentar: »Mit dieser Komposition versuchte ich die philosophischen Vorstellungen von Spinoza über die Wahrnehmung in musikalisches Material und musikalische Form umzusetzen. (….) Dabei spielen die Instrumenten eine sekundäre, interpretierende Rolle, mit ihren eigenen abstrakten Klangebenen, die neben dem gesungene Text existieren. Das melodische Material für die Komposition stammt von zwei cantus firmi, die sich auf den Tora-Melodien der Amsterdamer Synagoge Spinozas sowie auf die portugiesische Gregorianik aus der Zeit der jüdischen Vertreibung basieren. Diese Melodien sind auch in ihrer ursprünglichen Form mit der Vertonung des Textes «ego sum qui sum« zu hören der in theologischem Kontext auf die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinweist. Dabei spielt die Zahl 86, die in der jüdischen Zahlensymbolik mit dem Schöpfer und der Natur zusammenhängt, eine bedeutende Rolle hinsichtlich der Gestaltung der musikalischen Parameter. In dieser Weise findet ein Dialog zwischen dem Lesen und Hören dieses philosophischen Textes in der Zeit von Spinoza und Heute in der Komposition statt.«
Die erwähnte lateinische Textformel »ego sum qui sum« bezieht sich auf eine Bibelstelle aus dem zweiten Buch Moses, Exodus, Vers 3,14. Darin fragt Mose seinen Gott nach dem Namen. »Ich bin, der ich bin«, entgegnet Gott, wie es in der deutschsprachigen Einheitsübersetzung der katholischen und evangelischen Kirche lautet. Oder direkter angelehnt am hebräischen Original: »Ich werde dasein, als der ich dasein werde«, wie es Martin Buber und Franz Rosenzweig in ihrer Bibelübertragung 1997 ins Deutsche formuliert haben.
Der philosophische Text von Spinoza, den Biró für den Gesangspart seines Werkes herangezogen hat, klassifiziert unterschiedliche Wege der Erkenntnis: Die Passage beginnt mit »den Einzeldingen, die durch die Sinne verstümmelt, verworren und ohne Ordnung sich dem Verstand darstellen«. Sie werden von Spinoza als »Erkenntnis aus unsicherer Erfahrung« bezeichnet. Er unterscheidet diese von einer weiteren Kategorie, »Zeichen (…), dass wir uns beim Hören oder Lesen gewisser Worte der Dinge wieder erinnern, und gewisse Ideen von ihnen bilden, ähnlich denen, durch welche wir die Dinge vorstellen.« Diese nennt Spinoza »Meinung oder Vorstellung«. Als dritte Klassifizierung der Erkenntnis, führt Spinoza auf, «dass wir Gemeinbegriffe und adäquate Ideen der Eigenschaften der Dinge haben.« und nennt sie explizit »Vernunft« Zuletzt führt er noch eine weitere Form der Erkenntnis an, die er als »das intuitive Wissen« bezeichnet, »und diese Gattung des Erkennens schreitet von der adäquaten Idee des formalen Wesens einiger Attribute Gottes bis zu der adäquaten Erkenntnis des Wesens der Dinge vor«, so Spinoza im zweiten Kapitel seiner Ethik.
Eckhard Weber