Chaya Czernowin gehört zu den markantesten Künstlerpersönlichkeiten unserer Zeit. Mit ihren Werken hat sie auf vielschichtige Weise wichtige Impulse gegeben, sowohl in der Ausweitung und Differenzierung von Klängen als auch im Hinterfragen von Form und Werkbegriff. Geboren und aufgewachsen in Israel, hat Chaya Czernowin in Tel Aviv, Berlin und New York studiert und im kalifornischen San Diego promoviert. Sie lebte in Paris, Tokio und Wien, wo sie lehrte, und hat darüber hinaus mehrfach Kompositionskurse in Darmstadt sowie an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart geleitet. Seit 2009 ist sie Professorin an der Harvard University in Massachusetts.
Spätestens seit ihrem Militärdienst in Israel beschäftigt sich Chaya Czernowin mit Fragen der Identität und kategorialer Zuschreibungen, was aufgrund ihrer Aufenthalte in unterschiedlichen Weltgegenden und den damit verbundenen Perspektivwechseln noch intensiviert wurde. Dies hat die Komponistin 2007 bei einer Konferenz im Rahmen des Berliner Festivals MaerzMusik ausgeführt: Sie habe gerade in den Anfangsjahren im Ausland nahezu obsessiv den Begriff der Identität in ihrer Musik untersucht, »von innen, indem ich verschiedene, kontrastierende Stimmen (oder Identitäten) innerhalb einer komplexen Identität untersuchte. Ich erforschte, wie viel Widersprüchliches und Unterschiedliches existieren kann, bevor die Säume auseinanderreißen und man plötzlich mehr als eine Identität hat.« Solche Fragen nach Identitäten und nach deren Fluidität hat Chaya Czernowin auf vielfältige Weise beispielsweise an Möglichkeiten der Abgrenzung und der Auflösung des Instrumentalklangs verhandelt, etwa mit heterogenen Besetzungen als »Meta-Instrumenten«, bei Verbindungen mit elektronischen Klängen, mit neuartigen Spieltechniken, in der Auslotung zwischen Geräusch und Ton, aber auch in der Überlagerung verschiedener Musikstücke.
Um Fragen der Identität geht es auch in Guardian für Violoncello und Orchester, uraufgeführt 2017 beim Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage vom SWR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Pablo Rus Broseta. Den Solopart interpretierte die Cellistin Séverine Ballon, mit deren Spiel Chaya Czernowin seit langem vertraut ist. Auf den ersten Blick scheint Guardian der Gattung Konzert zu folgen, doch die Verhältnisse werden grundlegend verschoben, wie die Komponistin in einem Werkkommentar einmal mit poetischen Worten ausführte: »In Guardian träumt das Cello ein Orchester – und umgekehrt. Manchmal wächst der Celloklang, bis er das Orchester in sich aufzunehmen scheint, wie ein vergrößerter Resonanzkörper. Dann wieder träumt das Orchester, ein Cello zu sein oder eine einzelne Seite oder das Ende des Bogens.« Verschiedenartige Spieltechniken, auch die Verstärkung des Cellos über Lautsprecher, und vor allem eine sehr besondere Satzstruktur, die von gegenseitig wechselnden Aneignungsprozessen geprägt ist, lösen die klanglichen Grenzen zwischen Soloinstrument und Orchesterkollektiv, von Vorder- und Hintergrund, Hauptstimme und Begleitung konsequent auf. Gleichzeitig sind im Verlauf des Stücks, aufgrund unterschiedlicher Dichtegrade der Strukturen, zudem Perspektivwechsel in der Wahrnehmung von Zeit zu bemerken, ähnlich wie in der Wirklichkeit des Traums Zeit gerafft oder gedehnt werden kann. Hierarchien kommen auf diese Weise in dieser wahrhaft multidimensional gebauten Musik erst gar nicht auf, weil die Funktionen aller Beteiligten unaufhörlich in ihrer flexiblen Ambivalenz zur Disposition stehen. Die Konsequenz daraus ist eine faszinierende Freiheit in der Rollenverteilung.
Eckhard Weber