Charlotte Seither: zu welcher stunde

(2022) 12‘ – für Kammerorchester

Abschied – ein final cut, worauf man ihn auch immer beziehen möchte – wird meist aus der rückblickenden Perspektive vermessen: nach der disruptio. Welche Auswirkungen aber hat ein Verlust, wenn er unausweichlich ist, wenn man also aus der pre-disrupt-Perspektive auf ihn schaut? Es war die kleine, fast intime Orchesterbesetzung, die mich in diesem Stück interessiert hat. Im eng begrenzten, kammermusikalischen Raum, der zugleich Farbe und Tiefe kennt, lässt sich der kompositorische Verlauf stets mehrdeutig gestalten. Geht es um Trauer und Tod – oder gerade nicht? Schauen wir voraus oder eher zurück oder spielt der konkrete Punkt letztlich gar keine Rolle im kontinuierlichen Voranschreiten? Es ist also nicht der Inhalt, der mich in diesem Stück interessiert hat („no narration“), sondern eher die Richtung des Schauens, mit der ein und derselbe Gegenstand (oder Fixpunkt) betrachtet werden kann. Im Ausklang mündet das Stück in eine überhängende Klanglinie (ausschwenkende Handglocke), in der sich Bewegung und Innehalten gegenseitig durchdringen. Alles nur eine Frage des Hinhörens und -sehens? Sind Ruf und (offene) Antwort letztlich dasselbe? 

Charlotte Seither