Charles Kwong, welche Perspektve haben sie persönlich auf Gentrifizierung als Künstler, der in Hongkong lebt?
CK: Ich bin der Ansicht, dass Gentrifizierung mehr ist als sie scheint, nicht bloß ein Prozess ökonomischer und geografischer Veränderungen im städtischen Leben, sondern etwas Politisches, das den Kampf des Individuums mit Machtsystemen zeigt. Wenn wir uns dem Thema jenseits von der finanziellen Perspektive, von Bezahlbarkeit oder Wert von Wohnraum nähern, stoßen wir auf viele Narrative individueller Visionen von Formen des Wohnens und wie in einer Gesellschaft zusammengelebt werden kann. Es gibt Formen des Widerstands von Individueen, die an den Entscheidungen mitwirken wollen oder für eine Mitgestaltung Delegierte ihrer lokalen Gemeinschaft aufstellen, während sie jedoch gleichzeitig von einer anderen Seite mit stärkerer Teilhabe in ihrer Gestaltung gehindert werden. Manchmal geschieht es aber auch, dass diese Individuen gerade durch eine Neugründung in einem bestimmten Gebiet unbewusst andere entmachten. Unter solchen Gesichtspunkten sind die Probleme und Ziele der Individuen, die in solch einen Gentrifizierungsprozess verwickelt sind – wie ich selbst als Künstler in Hongkong – tatsächlich in gewisser Weise vergleichbar mit jenen, die bei Themenfeldern wie Migration oder Postkolonialismus diskutiert werden. Das gilt vor allem auch für Bewohner:innen von Hongkong.
Sie blicken also auf das konkrete Detail?
HS: Zuweilen erscheint mir der akademische oder wissenschaftliche Diskurs der Gentrifizierung etwas zu fatalistisch – es wirkt so, als sei dies ein irreversibler Prozess, etwas wie das Wetter, was wir zwar vorhersagen können, das wir aber nicht aushandeln können. Wenn Lebensformen in Form anonymer Statistiken, Entwicklungstendenzen und Kurven diskutiert werden, spricht mich das persönlich wenig an. Erst wenn wir herausfinden, wie einzelne Personen sich darum bemühen, ihre Identitäten auszuleben und ihre Visionen unter bestimmten Gegebenheiten zu verwirklichen , kann das Thema Gentrizifierung etwas davon erzählen, was wir als Kollektiv sind. Für mich sind diese Visionen das Interessanteste an der Gentrifizierung.
Wie nähern Sie sich nun musikalisch dem Thema?
HS: Das Projekt New Recherche begann mit der Hoffnung, einen Weg zu finden, das Thema in Form eines Konzerts zu behandeln. Doch es stellte sich heraus, dass eine andere performative Darbietungsform nötig ist. Diesen dynamischen Prozess in der Entwicklung des Projekts, wie wir eine Idee umsetzen wollten und tatsächlich die verschiedenen Ergebnisse, mit denen wir überhaupt nicht rechneten, verbunden haben, wollte ich in meiner Komposition konzeptionell behandeln. Die Ausweitung des Spektrums dessen, was eine „musikalische Darbietung“ sein kann, ist immer faszinierend für mich. Die Entwicklung eines Ensembles hat nicht nur mit Musikstilen oder mit einem bestimmten Repertoire zu tun, sondern mit etwas Existenztiellerem und sogar mit etwas Philosophischem. Es hängt mit Fragen zusammen, wie Grenzen zwischen Aufführenden und Publikum aufgelöst werden, zwischen Bühne und Saal, wie eine Aufführung eher zum Happening gemacht wird als zu einem „Konzert“. Denn bei einer solchen Aufführung geht es nicht mehr nur um eine Darbeitung und Zuschauer:innen, sondern eher um eine kollektive Bedeutung und um die Frage, „warum“ wir dies tun. Mein Stück habe ich mit dem Konzept geschaffen, eine Musik als kollektiven Erfahrungsraum zu gestalten. In meiner Vorstellung wird dieses Stück zu einer Art „ritueller Rekapitulation“ dessen, was in einer solch vielgestaltigen Aufführung passieren könnte, und wie diese scheinbar „nicht-musikalischen“ Elemente in einer musikalischen Komposition kontextualisiert werden könnte.
Welche Konsequenzen hat das für Ihre Musik?
HS: Mich interessiert, wie sich die Grenzen eines musikalischen Werks verwischen, wo es beginnt und wo es endet. Mit meiner Musik für das Projekt möchte ich gerade die unterschiedlichen Präsentationsformen der Mitwirkenden und somit die unterschiedlichen Arten, wie das Publikum einbezogen wird, berücksichten. Insofern sind bei meinem Werk Anfang und Ende nicht so klar abgegrenzt wie bei einem herkömmlichen Musikstück.
Wie war die Zusammenarbeit mit den Kolleg:innen und dem Ensemble für Sie?
HS: Die Pandemie und die sehr strengen Quarantäneregeln in Hongkong haben mir zunächst nur die Möglichkeit geboten, an diesem Work in Progress über Zoom-Konferenzen teilzunehmen. Das war natürlich ein wenig frustrierend, weil solche Treffen im digitalen Raum ihre Grenzen haben. Zwar erleichtert so etwas den Informationsaustausch, aber subtile Dinge wie eine gewisse Gruppendynamik oder individuelle Reaktionen Einzelner bei der Entwicklung eines experimentellen Formats wurden für mich erst greifbar, als ich persönlich im Oktober 2021 bei den Treffen in Freiburg teilnahm. Davor konnte ich eigentlich bloß ausgehend von unserem digitalen Austausch darüber spekulieren, wie die anderen Teilnehmenden während der Zeitspanne von fast einem Jahr arbeiteten. Als ich dann nach Freiburg kam, merkte ich, dass es eine Diskrepanz gab zwischen den Dingen, wie ich sie mir vorgestellt hatte und wie sie mittlerweile tatsächlich umgesetzt wurden. Aber dieser Widerspruch scheint auch in den Kontext dieses Projekts zu passen. Bei jedem Standortwechsel, jedem Umzug haben wir bestimmte Vorstellungen oder Annahmen eines Ortes, den wir zu kennen glauben, was jedoch nicht unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Und indem wir uns auf die tatsächlichen Gegebenheiten einstellen, setzen wir uns auch mit dem Einfluss unserer Vorstellungen auseinander. Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich schließlich doch nach Freiburg kommen konnte, auch wenn der Preis ein zweiwöchiger Aufenthalt in einem Quarantäne-Hotel bei meiner Rückkehr nach Hongkong war. Solch ein gemeinsamer Recherche- und Work-in-Progress-Prozess ist nicht nur wichtig für eine funktionierende Vorbereitung des Projekts, er bringt auch neue inspirierende Perspektiven, die ansonsten nicht aufkommen würden.
(Interview: Eckhard Weber)