Der Tod gibt den Takt vor. In jeder Sekunde, so hat die Komponistin Birke Bertelsmeier recherchiert, sterben ungefähr zwei Menschen auf der Welt. Während der Aufführung ihrer Komposition TIC sind es – laut Partitur – eintausendeinhundertzweiundsechzig. Und soweit hat der Solist, nonverbal getragen vom Schlagzeug im Ensemble, in rasendem Tempo auch zu zählen. »Dieser unregelmäßige Puls«, so die Komponistin, »erinnert uns an die Unausweichlichkeit, die Bedeutungslosigkeit und die zeitliche Unbestimmbarkeit des Todes. Jeder Schlag steht für einen letzten Atemzug, ein individuelles Schicksal, eine Geschichte, die wir nicht kennen.« Interpoliert in diese Litanei des Todes werden in fragmentarischer, äußerst verknappter Weise Bibelstellen, in denen das Wort ›Tod‹ auftaucht. Davon gibt es unzählige. Jedoch wird ein Zitate-Reigen konsequent vermieden, indem in den ausgewählten Stellen eben dieses Wort ›Tod‹, als handele es sich dabei um einen negativen Fetisch, ausgespart wird. Dadurch entsteht eine weitgehend kryptische Abfolge von Satzfragmenten wie »nach dem«, »in den« oder »bis an den«. Einige wenige Ausnahmen gibt es jedoch, an denen die zitierten Bibelstellen auch tatsächlich erkannt werden können, unter anderem eine Stelle aus dem Buch Hosea (»Tod, ich will dir ein Gift sein«) und aus dem Römer-Brief (»Doch herrschte der Tod von Adam bis auf Moses auch über die, die nicht gesündigt haben«). Der Kulminationspunkt des ganzen Werks liegt jedoch nach etwa zwei Dritteln, am Goldenen Schnitt. Hier kommt für kurze Zeit die vorher unstete, fast hektische Bewegung (das Klavier spielt ohne Unterlass Sechzehntelketten) zur Ruhe, der Bass singt in weiten Intervallen und im zurückgenommenen Mezzopiano jene Passage aus dem 1. Korinther-Brief (»Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg«), die nicht zuletzt deshalb zu einer der bekanntesten biblischen Todesstellen avancierte, weil sie durch Johann Sebastian Bach, Johannes Brahms und auch Johnny Cash musikalisch ausgedeutet wurde. Birke Bertelsmeier zitiert die Vorgänger nicht – aber führt in TIC diese kompositorische Linie fort.
Rainer Pöllmann