Beat Furrers 2004 entstandenes Streichquartett trägt schlicht den Namen III. Streichquartett. Und tatsächlich hat der 1954 geborene Österreicher hier eine Komposition geschaffen, die ohne jeden Zusatzstoff auskommt – ein Werk für akustisches Instrumentarium von monumentalem Umfang, das die Gattungstradition weder verneint noch auszuhebeln sucht. Furrer selbst vergleicht das Stück mit einer großen Erzählung. Er orientierte sich für die Ausarbeitung der formalen Anlage am Erzählprinzip des US-amerikanischen Kriminalfilms Memento aus dem Jahr 2000: Die Filmhandlung wird von einem Mann erzählt, der seit einem Unfall kein Kurzzeitgedächtnis mehr besitzt und herausfinden möchte, wer seine Frau ermordet hat. Nach und nach versucht er, die Geschichte zu rekonstruieren, wobei immer wieder Fragmente aus seiner Erinnerung aufflackern. Diese erinnerten Momente der Geschichte werden im Laufe der Zeit mit neuen Ereignissen vermischt und es bleibt unklar, welche Elemente der Realität entsprechen und welche nicht. Es entsteht ein rätselhaftes Mosaik verschiedener Kausalzusammenhänge, das sich dem Zuschauer im Verlauf des Filmes Schritt für Schritt erschließt. Denn die einzelnen Szenen spielen sich in umgekehrter Reihenfolge ab. So ist am Ende des Filmes die Handlung an ihrem Ausgangspunkt angelangt und erst in diesem Moment ergeben die narrativen Zusammenhänge einen erkennbaren Sinn.
An dieses verschachtelte Erzählmodell hat Furrer die formale Gliederung seines III. Streichquartetts angelehnt: »Ich habe zuerst eine prozesshafte Entwicklung eines Klanges skizziert und diese dann in Keile geschnitten. Dann habe ich begonnen, diese Abschnitte von hinten zu lesen, in einem zweiten Teil die Bewegungsrichtungen von vorne und von hinten miteinander kombiniert und am Schluss den Ablauf in ursprünglicher Form gebracht – die Geschichte also original erzählt.« So legt Furrer seinem Streichquartett drei untereinander kontrastierende klangliche Ausgangsstrukturen zugrunde: clusterhafte Tuttiakkorde, Linienfiguren und Häufungen von Pizzicati. Jede dieser Strukturen durchläuft für sich selbst eine Entwicklung, einen sukzessiven Veränderungsprozess, der aber ebenso von Wiederholungen lebt. Denn erst das Wiederholen von Momenten, von Figuren, von Abschnitten schafft Fasslichkeit. Wiederholen ist der Versuch, sich zu erinnern. Die Abwandlung findet oft unmerklich statt, bis schließlich ein Zustand erreicht ist, da das Ausgangsmaterial gänzlich umgewandelt ist und nur noch eine vermeintliche Erinnerung vorliegt. Mit diesem Prinzip der Repetition bei gleichzeitiger Modifikation schafft Furrer eine komplexe Montage klanglicher Materialebenen.
»In der Musik«, so Furrer, »heißt Erinnern etwas anderes als in einer Erzählung, trotzdem ist der Gestus des Rekonstruierens natürlich erfahrbar und musikalisch entwickelbar. In der Musik sind dies Momente der Gerichtetheit oder der Richtungslosigkeit, Punkte, an denen es so oder so weitergehen könnte.« Ein solcher Moment, an dem verschiedene Fortgänge denkbar wären, ereignet sich etwa in der Mitte des Stückes: Überraschend erscheint das Thema eines protestantischen Chorals in G-Dur, dessen Melodie auf dem 22. Psalm basiert. Wie ein Fremdkörper erscheint diese Passage im Kontext des gesamten Stückes und zieht sogleich alle Aufmerksamkeit auf sich. Eingeführt wird das Thema – zunächst kaum erkennbar – in hohen Registern als Glissandi und Flageoletttöne. Ein sich anschließender, voller G-Dur-Akkord lässt den Choral schließlich klar und deutlich zutage treten. »Ich hatte das Bedürfnis«, so der Komponist, »dieser komplexen Form etwas einfach Gesungenes hinzuzufügen, so dass diese nicht nur formalistisches Experiment ist.«
Ganz ähnlich wie etwa das Aufblitzen der Musik von Bach in Alban Bergs Violinkonzert oder auch in Johannes Brahms’ vierter Sinfonie zieht der Choral in Furrers III. Streichquartett eine weitere Ebene der Erinnerung in die Musik ein: eine Erinnerung, die – ähnlich wie auch etliche Details im Film Memento – nicht unsere persönliche Erinnerung ist, sondern Teil eines kollektiven kulturellen Gedächtnisses. Es liefert uns hilfreiche Koordinaten in der unübersichtlichen Welt verschiedener musikalischer Erzählzeiten.