Alberto Hortigüela: Caligaverunt oculi mei

für Countertenor solo (2007) UA

Der Countertenor Daniel Gloger und der Komponist Alberto Hortigüela kennen sich aus gemeinsamen Zeiten zu Beginn des Jahrtausends in Stuttgart: Alberto Hortigüela führte nach dem Studium in Salamanca und Alcalá de Henares seine Ausbildung an der Musikhochschule Stuttgart fort, Daniel Gloger sang bei den Neuen Vocalsolisten. Beide hatten gemeinsame Bekannte und trafen sich beim Festival Eclat in Stuttgart. Daniel Gloger, den seit langem neues Repertoire für sein Stimmfach interessiert, bat in jener Zeit Alberto Hortigüela um ein Werk. Der Komponist musste nicht lange überlegen, welchen Text er für eine Vertonung wählen würde: Die Verse des Caligaverunt aus den Karfreitag-Responsorien des spanischen Vokalpolyphonisten Tomás Luis de Victoria hatten ihn schon immer tief beeindruckt. Diese Komposition ist ein Teil des Officium Hebdomadae Sanctae von Victoria, Musik zur Karwoche, die 1585 in Rom im Druck erschienen ist. Die Stellung der Musik von Victoria und seine Präsenz im kollektiven Gedächtnis in Spanien sind vergleichbar mit der Bedeutung, die Johann Sebastian Bach in Deutschland einnimmt.

„Dieser Text steht am Ende des Karfreitags, wenn Christus schon gestorben ist. Die Menschen sind allein ohne Christus.“ So deutet Alberto Hortigüela im Interview für Ultraschall Berlin den Inhalt der lateinischen Verse des Caligaverunt, die an Hiob 16,16 und an Vers 1,12 aus den Klageliedern des Propheten Jeremias angelehnt sind. Für sein eigenes Stück für Countertenor solo hat Alberto Hortigüela den kurzen Text ins Spanische übertragen (Deutsch: „Meine Augen sind getrübt vom Weinen, / So groß ist mein Schmerz. / Ihr, die vorbeigeht, / hört und seht meinen Schmerz. / Seht alle, / wie mein Trost sich von mir abgewandt hat.“) Weshalb dieser Text Alberto Hortigüela so bewegt, liegt nicht zuletzt an der Musik von Victoria. „Sie ist sehr expressiv und doch sehr auf das Wesentliche reduziert, auf das Existenzielle zurückgeworfen, was sehr stark diesen Aspekt des Verlassenseins zum Ausdruck bringt“, sagt Hortigüela. Er habe versucht, die Atmosphäre in dieser Musik mit seinen eigenen Ausdrucksmitteln, und somit aus der Perspektive eines Komponisten von heute, einzufangen.

Geleitet wurde er von der Intention, die im Text angesprochene existenzielle Verlorenheit zum Ausdruck bringen. „Ich dachte mir diese Stelle als eine Wanderung oder eine Pilgerfahrt eines Blinden, der verzweifelt und ohne Orientierung ist.“

Caligaverunt oculi miei von Alberto Hortigüela ist ein getragenes Vokalstück, bei dem sich in Anlehnung an diese Lesart die Musik zunächst ihren Weg suchen muss: Am Anfang ist der Text in einzelne isolierte Silben aufgebrochen, als ob die Artikulation erst gefunden werden muss. Erst allmählich setzen sich die Fragmente zu zerrissenen Figuren und zu einer Linie zusammen. Der Ambitus ist sehr weit, das Gesangsspektrum reicht vom Baritonregister bis zu sehr hohen Bereichen in der Countertenorlage. Auch Geräuschhaftes, das Singen mit geschlossenem Mund und absteigende chromatische Skalen, zu deuten als akkumulierte Seufzerfiguren, prägen die Melodielinie. Zwar hat Alberto Hortigüela nicht plakativ die Stockschläge des blinden Pilgers, den er sich für das Werk vorstellt, in der Partitur vermerkt. Doch wer aufmerksam zuhört, dürfte die Bewegungen des Wanderers vor dem inneren Auge mitverfolgen können.

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