(1993)
Aaron Jay Kernis ist in gewisser Weise ein Traditionalist. Emotion und die tiefe Durchdringung von Stimmungen in der Musik sind ihm ein hohes Gut. Anfang der 1990er Jahre bekannte er, dass er zunehmend die Musik schätze, die vor 1911 – also praktisch vor der Moderne – entstanden sei: »Ich liebe die Musik der Vergangenheit (…) Ich möchte alles in die Musik einbeziehen: Hochfliegende Melodien, Konsonanz, Spannung, Dissonanz, Motorik, Entspannung, Farbe, starke Harmonien und Form – und für jede nur erdenkliche Emotion, die erzeugt werden kann durch den leidenschaftlichen Einsatz dieser Elemente.« Aaron Jay Kernis begreift sich als Künstler, der seine Eindrücke und Schaffensimpulse in seiner eigenen Epoche genauso findet wie in der langen Reihe der Kreativen in der Musik vor ihm. Dabei geht es ihm weder um verklärte noch um nostalgische oder um ironische Rückblicke. Vielmehr amalgamiert er sämtliche Klangsphären, die ihn geprägt haben und setzt sie individuell ein, um sich in seinen Kompositionen auszudrücken. Die Kommunikationsfähigkeit eines musikalischen Werkes hat für Aaron Jay Kernis hohe Priorität. Seine Musik will stets verstanden werden. In diesem Zusammenhang betrachtet es der Komponist für sich auch nicht selten als künstlerische Pflicht und Verantwortung, seine Werke als Kommentare zu den Verwerfungen im Weltgeschehen zu konzipieren.
Still Movement with Hymn für Klavierquartett, entstanden 1993, ist unter dem Eindruck der Nachrichten vom Beginn der Jugoslawienkriege in jenen Jahren geschrieben worden.
Im Vorwort der Partitur erwähnt Aaron Jay Kernis ausdrücklich die „Genozide in Bosnien und Kroatien“ und beklagt den damit einhergehenden Verlust der Menschlichkeit. Denn, so der Komponist damals, wir müssten leider lernen „dass die Welt, in der die meisten glauben zu leben, nicht geprägt ist von Vernunft, Mitleid und Vergebung, sie stellt sich vielmehr als banal und zerbrechlich heraus im Licht der Kräfte von ethnischem Hass und Brutalität.“ Mehrere Kriege und Verwerfungen später in der jüngsten Geschichte hat diese Beachtung nichts an Aktualität verloren. Aaron Jay Kernis widmete sein Werk dem Komponistenkollegen Stephen Albert, der 1992 bei einem Autounfall auf Cape Codd in Massachusetts ums Leben kam.
Still Movement with Hymn ist somit eine zweifache Trauermusik. Ein durchgehend elegischer Charakter zieht sich durchgehend durch das Werk. Es wirkt wie ein instrumentales Klagelied. Erinnerungen an Trauergesänge aus der jüdischen und christlichen Tradition prägen die Musik, Aaron Jay Kernis hat in diesem Zusammenhang auch das jüdische Gebet Kaddisch erwähnt. Den Titel Still Movement, im Sinne von Standbild, etwa bei einem Film, hat sich der Komponist aus einem vorher entstandenen eigenen Werk entliehen: Still Movement heißt bereits der dritte der fünf Sätze seiner Symphony in Waves (1989), bei dem Aaron Jay Kernis die Vorstellung eines Standbilds einer hochschnellenden Welle vor Augen hatte. Der Teil Hymn wiederum bezieht sich auf sein Solowerk Hymn für Akkordeon (1993), ein Stück, dessen Inhalt Aaron Jay Kernis nach eigenem Bekunden weiter beleuchten wollte, nun mit dem Klangkörper eines Klavierquartetts. In Still Movement with Hymn nimmt der Teil Still Movement den größten Raum ein, über zwanzig Minuten. Hymn ist darin ein relativer kurzer Schlussteil von knapp sechs Minuten.
Zu Beginn des Gesamtwerks stehen einzelne Klavierakkorde, wie verloren im Tonraum verstreut. Die allmählich hinzutretenden Streicher integrieren diese Klavierakkorde in ein Geflecht aus elegisch geprägten Melodielinien. Aufgrund seiner spezifischen, vom Streichergewebe abgekoppelten Harmonik sorgt das Klavier mit seinen akkordischen Akzenten für eine latente Bitonalität. Das hörende Ohr vermeint in diesem nie nachlassenden langsamen Fluss von miteinander verschlungen Melodielinien auch ganz kurz aufgeblendete Anklänge zu entdecken, praktisch nie direkt als Zitate erkennbar, etwa an langsame Sätze aus Mahler-Sinfonien, verschiedene Requiem-Vertonungen, an Schönbergs Verklärte Nacht und vieles andere. Gleichzeitig bestimmt das Geschehen eine Abfolge von sachte sich steigernden Entwicklungen, Auflösungen, Rücknahmen und erneutem Vorstoßen. Auch Inseln ferner Erinnerungen an friedliche Idyllen tauchen auf, die jedoch in Klage und Erstarrung umschlagen können. Und hieraus kann wieder allmählich Neues und Hoffnungsvolles erwachsen. Insofern kann Still Movement with Hymn auch als eine sehr sensibel abgehörte Studie über Trauerarbeit aufgefasst werden. Es dauert indes sehr lange, bis sich Wut, eine der wesentlichen Emotionen in der Trauerphase, Bahn bricht, erst kurz vor Ende von Still Movement. Das gesamte Geschehen steigert und verdichtet sich in vielfältigen Ausprägungen und führt zu einer eindrucksvollen Sequenz leidenschaftlicher Klage in weiten Spannungsbögen. Der kurze abschließende Teil Hymn nimmt eine abgeklärte Perspektive ein, nahezu friedlich in sich ruhend. Die Klänge weiten sich kurzfristig zu helleren Nuancen aus. Indes geschieht dies zaghaft, sogar mit Innehalten. Als ob dem neuen Weg in den Klängen, der hier eingeschlagen wird, noch nicht gänzlich getraut werden kann. Das Geschehen bleibt fragil.