Musica Celestis lautet der Titel des langsamen Satzes von Aaron Jay Kernis‘ erstem Streichquartett. Es wurde 1990 vom Lark Quartett uraufgeführt als Auftragswerk der traditionsreichen New Yorker Walter W. Naumburg Foundation. Kurze Zeit später hat der Komponist diesen zweiten Satz des Quartetts für Streichorchester instrumentiert. In dieser Fassung brachte ihn 1992 das San Francisco Chamber Orchestra unter der Leitung von Ransom Wilson zur Uraufführung.
Aaron Jay Kernis, geboren 1960 in Philadelphia, studierte bei Lehrern wie John Adams, Charles Wuorinen und Jacob Druckman. In einer Äußerung über sein Streichquartett hat sich Kernis in den 1990ern einmal ausdrücklich zur Emotionalität in der Musik bekannt, dass er immer mehr die Musik schätze, die vor 1911 – also vor der Moderne – entstanden sei: »Ich liebe die Musik der Vergangenheit (…) Ich möchte alles in die Musik einbeziehen: hochfliegende Melodien, Konsonanz, Spannung, Dissonanz, Motorik, Entspannung, Farbe, starke Harmonien und Form – und für jede nur erdenkliche Emotion, die erzeugt werden kann durch den leidenschaftlichen Einsatz dieser Elemente.« Ist Aaron Jay Kernis deshalb ein Neoromantiker? Wenn schon, dann eher ein postmoderner Neoklassizist, der sich in unserer Zeit, die sämtliche Klänge der Gegenwart und viele der Vergangenheit multimedial zur Verfügung stellt, für eine bewusst subjektive Auswahl entscheidet. Auf dieser Basis interpretiert er auf individuelle Weise kompositorisch das, was ihn inspiriert. Der angeführte Titel Musica Celestis verweist auf das Mittelalter, wie er im Zusammenhang mit seinem Streichquartett betont hat: »Der zweite Satz Musica Celestis wurde inspiriert durch das mittelalterliche Konzept dieses Begriffs, der sich auf den Gesang der Engel im Himmel bezieht, die damit Gott ohne Unterlass preisen.« Kernis führt zur näheren Erläuterung eine Stelle aus dem Musiktraktat Musica disciplina des Benediktinermönchs und Musiktheoretikers Aurelianus Remonensis aus dem 9. Jahrhundert an: »Zusammenfassend ist also aus all dem zu schließen, wie willkommen Gott die Pflicht des Singens ist, wenn sie mit aufmerksamem Geist ausgeführt wird. Denn dadurch wird von uns der Chor der Engel nachgeahmt, die ohne Unterlaß, so wird überliefert, Gottes Lob anstimmen.« Zwar glaube er nicht an Engel, so Kernis, »aber ich halte dies für ein starkes Bild, das noch verfestigt wurde durch das Hören einer Menge mittelalterlicher Musik, besonders der erhebenden Kompositionen von Hildegard von Bingen.«
Diese Musica caelestis, diese Himmelsmusik, wie sie Aaron Jay Kernis am Ende des 20. Jahrhunderts imaginiert, ist somit gespeist von der Rezeption Jahrhunderte alter Musikauffassungen, ikonographischer Darstellungen und mystischer sowie philosophischer Ausführungen, Sedimente unserer kollektiven Vorstellungswelt. Doch auch jenen »Widerschein azurner Wellen, zurückgestrahlt von irisfarbenen Wolken«, den Franz Liszt im Vorspiel von Richard Wagners Lohengrin synästhetisch wahrnahm, meint man zu Beginn von Kernis‘ Werk zu hören: Klangflächen, ätherisch gleißend, dann auch warm tönend, werden dezent übereinander geschichtet. Aus der subtil sich entfaltenden harmonischen Reibungsenergie dieser Klangschichten zieht Kernis die Antriebskraft für zunehmend bewegte Passagen, die schließlich in einer sich allmählich dramatisch steigernden, polyphonen Aufwärtsbewegung münden – gewissermaßen himmelwärts strebend. Diese Bewegung wird gegen Ende aufgefangen in einem abgeklärten ruhigen Widerhall, der einen dramaturgischen Bogen zum Anfang des Stücks schlägt.
Eckhard Weber