Komponieren heißt zunächst einmal ›Zusammensetzen‹. Und genau in diesem ursprünglichen Sinne des Wortes betrachtet Yiran Zhao ihre Arbeit. Für die 1988 im chinesischen Qingdao geborene Komponistin ist Komponieren nicht die bloße Organisation von Klang, sondern es ist ein ›Zusammensetzen‹ ganz verschiedener Elemente, zu denen auch Licht oder haptische Stimuli zählen können. Schon ihre Auffassung des musikalischen Materials ist grundlegend erweitert: Zu konventionellen Musikinstrumenten und ihren klanglichen Potenzialen gesellen sich Objekte, Körper, Bewegungen und Leuchtquellen. Besonders ins Auge springt Zhaos Beschäftigung mit Licht – einerseits ein vollkommen klang- und geräuschloses Phänomen, andererseits eine physikalische Größe, die sich genau wie Musik durch Wellenlängen, durch verschiedene Farben und Intensitäten sowie durch Kontraste oder Übergänge auszeichnet.
Diese Ausweitung musikalischer Vorgänge auf visuelle Komponenten ist allerdings nicht als dekoratives Beiwerk oder Effekthascherei zu verstehen; sondern alle optischen Aspekte eines Stücks fungieren ebenso als kompositorische Bausteine wie die akustischen Ereignisse. Entsprechend gleichberechtigt werden sie behandelt: »Eine Veränderung der Dynamik etwa«, sagt Yiran Zhao, »muss nicht zwangsläufig an Lautstärke gebunden sein. Ebenso kann ich eine Lampe ein- und ausschalten oder langsam dimmen. Wenn die Lichtsituation sich abrupt oder fließend verändert, kann das durchaus eine musikalische Entwicklung sein. Vielleicht erzeugt auch ein helles, beißendes Licht eine ähnliche Spannung wie ein hoher Piccoloflötenton.« Es sind also die gleichen Maßstäbe, die die Komponistin an alle Ausgangsmaterialien anlegt. So lassen sich viele ihrer Stücke in einem Grenzbereich von Instrumentalmusik, Performance, Klanginstallation und Videokunst lokalisieren.
Ein Verständnis von Musik als ganzheitliches und zugleich vieldeutiges Erlebnis ist typisch für Yiran Zhaos Kompositionen. Beispielhaft dafür steht das Stück Ohne Stille II (2015) für große Trommel und Licht. Hier arbeitet Zhao nur mit einigen wenigen Elementen, denen aber multiple Funktionen zukommen. So ist die Trommel einerseits als konventionelles Musikinstrument, andererseits als Requisit zu betrachten, das auf seine Wirkung als Körper im Raum untersucht wird. Zwei Spieler traktieren Fell, Rahmen und Korpus der Trommel mit verschiedenen Schlägeln und bloßen Händen. Die dabei entstehenden Klänge bewegen sich in einem Grenzbereich von eindeutig musikalisch und nicht-musikalisch assoziierten akustischen Ereignissen. Nebengeräusche wie das Quietschen der Scharniere beim Drehen und Verstellen des Korpus lassen sich ebenfalls als kompositorisches Material lesen. Dem Instrument kommt aber noch eine weitere Funktion zu: Durch eine im Korpus installierte Leuchtquelle, die in der Dunkelheit durch das Fell strahlt, dient es als Lichtobjekt mit einer fast poetisch zu nennenden Wirkung. Es braucht nur wenig Fantasie, um die Trommel als stilisierten Mond zu erkennen. Zusammen mit den Bühnenscheinwerfern ermöglicht diese instrumentale Laterne eine große Auswahl potenzieller Beleuchtungssituationen. Es entsteht eine Lichtchoreografie, die mindestens genauso abwechslungsreich ist wie die klanglichen Anteile der Komposition: Warmes und kaltes, punktuelles und diffuses, augenblicklich wechselndes und sich langsam veränderndes Licht bilden einen eigenen rhythmischen Verlauf aus. Streckenweise werden die Scheinwerfer so positioniert, dass sie klar konturierte Schatten auf die Rückwand des Raumes werfen. So sind Trommel und Musiker nicht nur als dreidimensionale Körper, sondern auch als vergrößerte Silhouetten sichtbar. Das Ergebnis ist eine optische Zweistimmigkeit. Damit hat die Komponistin ein Stück für Soloinstrument in eine komplexe polyphone Darbietung verwandelt, die eine alle Sinne umfassende Rezeptionshaltung fordert.
Bewusst distanziert sich Yiran Zhao von einer Sichtweise, die Musik ausschließlich als organisierten Klang versteht. Auch ihr Selbstverständnis als Künstlerin speist sich aus einem Paradigmenwechsel: Anstatt die seit dem 19. Jahrhundert gängige Trennung von Schöpfer und Interpret als vorherrschendes Arbeitsmodell zu begreifen, versteht sie sich eher als Composer-Performer. Vor allem in ihren installativen Arbeiten bedient sie Klangerzeuger und Lichtquellen gerne selbst: »Die meisten Objekte in meinen Stücken sind nicht besonders kompliziert. Das können Taschenlampen, Metronome, Bluetooth-Boxen oder andere Dinge sein, die ich problemlos im Koffer transportieren kann. Außerdem verwende ich ohnehin lieber wenig und einfaches Material, das ich dann in all seinen Details untersuche, anstelle von einer Menge Material, das einfach nur hintereinander aufgereiht wird.«
Sich auf wenige Materialien zu beschränken, diese aber ausgiebig zu sezieren, ist einer von Yiran Zhaos Leitgedanken beim Komponieren. Diesen Ansatz verfolgt sie auch in ihrem Duo Piep (2015), in dem die Perkussionisten kein konventionelles Schlagwerk verwenden, sondern elektrische Metronome – Werkzeuge also, die normalerweise als Hilfsmittel zum Proben dienen. „Ich verstehe diese Metronome“, sagt Zhao, „nicht nur als Apparate, die mir helfen, ein Tempo festzulegen. Sondern ich nutze sie als elektronische Musikinstrumente. Man kann rhythmische Patterns, verschiedene Tonhöhen und sogar Glissandi mit ihnen erzeugen. Außerdem haben sie einen Lautsprecher, so dass – wenn man sie durch den Raum bewegt – spannende Effekte und klangfarbliche Veränderungen entstehen.« […]
Yiran Zhaos konsequente Erweiterung von Gattungskonzeptionen, kompositorischen Materialien und aufführungssituativen Rahmungen zeichnete sich schon in ihrem Studium ab. Den Bachelor absolvierte sie in Peking, wo ein klarer Schwerpunkt auf konventionellem kompositorischen Handwerk und dem Schreiben von Instrumentalmusik lag. Ein Wechsel an die Musikhochschule Stuttgart und später nach Linz entfachte schließlich ihre Neugierde auf nicht-klangzentrierte, interdisziplinäre Herangehensweisen. Es folgte ein Prozess der kompositorischen Umorientierung, aus dem viele ihrer experimentellen Projekte hervorgegangen sind. Dennoch hat Zhao das Interesse an reiner Instrumentalmusik nie verloren – auch wenn selbst hier ihr transmedialer Ansatz durchschimmert: »In meinen Stücken«, sagt Zhao, »geht es immer um Bewegung. Das kann eine physische Bewegung ebenso wie die Bewegung einer melodischen Linie oder das Aufeinandertreffen zweier Frequenzen sein, die eine Schwebung erzeugen.« Um eine ganz konkrete Form der Bewegung geht es in dem Ensemblestück Fluctuation Ia (2015/16). Der gesamte Verlauf der Musik geht auf eine an einem Stativ hängende Keksdose zurück, die durch einen Metalldraht mit einer tiefen Klaviersaite verbunden ist. Lässt man die Dose schaukeln, entstehen – je nach Spannung des Drahtes – unterschiedlich große Intervalle, die wiederum in Schaukelgesten der anderen Instrumente übersetzt werden. […]
Yiran Zhao ist keine Komponistin, der es hauptsächlich darum geht, virtuosen Output zu generieren. Vielmehr ist sie eine besonnene Forscherin, die oft sehr lange hinhört, was um sie herum passiert, bevor sie mit der künstlerischen Arbeit beginnt. Mit größter Ernsthaftigkeit begegnet sie dem Klangkosmos ihrer Umwelt, wobei ihr kein Körperteil eines Performers, keine Betonstruktur in der Stadt und keine Schieferunterlage im Restaurant entgeht. Sie kommt den Dingen mikroskopierend nah. Tastsinn und haptische Wahrnehmung sind ihr dabei zuverlässige Helfer. So hat sie auch gleich mehrere Stücke komponiert, die den Titel TOUCH tragen. Das Ensemblestück TOUCH II (2015/16) etwa widmet sich einerseits den Berührungs- und Präparationsmöglichkeiten von Saiten im Klavierinnenraum. Andererseits geht es um Verbindungen verschiedener Instrumente untereinander – mittels rhythmischer Modelle und Impulsketten, die durch das Ensemble gereicht werden.
Bei einem Blick in Yiran Zhaos Werkkatalog fällt auf, dass die Komponistin eine Reihe von Stücken entwickelt hat, die das Konzept ›Solo‹ in den Blick nehmen; ob als Ein-Personen-Musiktheater oder als forensische Untersuchung eines einzelnen Instruments. So wird in dem Solostück Joik (2014) das vielfältige Klang- und Geräuschpotenzial einer Rahmentrommel ausgeleuchtet. In der multimedialen Musiktheaterminiatur The Single Day (2019) manövriert eine einzelne Sängerin im Zwielicht durch ein Gemenge enigmatischer Klänge, Videoprojektionen und Textschnipsel. Und in Pluri (2016–17) tritt ein Solotänzerin Interaktion mit seinen Alter Egos – zu sehen auf zehn im Rechteck und in verschiedene räumlichen Tiefenpositionen angeordneten Leinwänden, von denen eine sein eigener entblößter Körper ist. Paradox muten vor allem jene Momente an, in denen etwa das Gesicht des Protagonisten auf seinem Rücken erscheint.
Auch wenn sich der Eindruck einstellen mag, viele von Yiran Zhaos Arbeiten ließen sich ohne die visuelle Wahrnehmung nicht sinnvoll rezipieren, ist es ausnahmslos ihr Ziel, einen Organismus zu schaffen, der als Musik identifizierbar ist – ob audiovisuell, taktil oder rein akustisch. Ein theoretischer Überbau oder philosophische Überlegungen sind dem Kompositionsprozess höchstens vorgeschaltet, umWirkungen oder Klangresultate planen zu können. Niemals jedoch erstarrt die Musik in intellektuellen Theoriegebilden, im Gegenteil: Yiran Zhao setzt beim unmittelbar erlebbaren sinnlichen Reiz an. Es ist die Musik einer Schöpferin, die schreibt, was sie hören, sehen und empfinden will.
Leonie Reineke